Kapitel 1
Katrin hatte ganz konkrete Vorstellungen von ihrem eigenen Café gehabt: Die Möblierung eine bunte Vielfalt aus unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten, bunt lackierte Stühle, gemütliche Sessel, ein uriges Sofa, Bistrotische, Regale für Kleinkunst, ein altes Piano und an den Wänden jede Menge Platz für Bilderausstellungen. Sie wollte der Kunst, auch ihrer eigenen, einen Raum geben, wollte Kabarett- und Liederabende veranstalten, Autorenlesungen organisieren, Fotos, Skulpturen und gemalte Bilder ausstellen – außer die von Gaby Hollmann – wollte in die Bohème-Welt eintauchen. Ihr Café Kleinkunst sollte ein angesagter Treffpunkt für die Künstler der Stadt werden – außer für Gaby Hollmann – und nebenbei der Sicherung ihres eigenen Einkommens dienen. Vor allem aber sollte es die berufliche Erfüllung werden, nach der sie so lange gesucht hatte.
Die Voraussetzungen dafür waren perfekt gewesen. Ihre beiden Töchter waren groß und sie konnte sich endlich ihrer Selbstverwirklichung widmen. Die perfekte Location für das Café hatte sich schnell finden lassen und Dank des Geldsegens aus dem Coup, den sie letztes Jahr in Italien mit ihrem guten alten Freund Hermann Müller gelandet hatte, war auch die Finanzierung nicht das Problem gewesen.
»Kaki, kannst du bitte das Fläschchen für Marie-Claire warm machen?«
Eine der jungen Mütter kam mit ihrem verheulten Töchterchen auf dem Arm an den Tresen und reichte Katrin das Milchfläschchen.
»Bitte, Yvonne, nenn mich nicht Kaki. Schlimm genug, wenn die Kinder das tun.«
»Wieso? Wir finden das alle süß. Wir sollten deinen Laden in Café Kaki umbenennen. Hm, was meinst du, Marie-Claire?« Angetan von ihrer originellen Idee strich sie dem Kind über den Kopf. Marie-Claire hörte prompt zu weinen auf und lachte wie ein Honigkuchenpferd.
Katrin fand das nicht lustig. Irgendwas lief hier falsch. Sie musste dringend lernen, sich durchzusetzen. Kaki!! Also wirklich! Sie nahm Yvonne das Fläschchen ab und stellte es in den Flaschenwärmer, den sie einer Sammelaktion einiger Mütter zu verdanken hatte. Ein eigennütziges Geschenk, wie so viele andere auch. Jetzt, zwei Monate nach der Eröffnung ihres Cafés, befand Katrin sich inmitten von stillenden Müttern, kreischenden Babys, Spielzeug-Tretminen, und das einzige, was mit Kunst zu tun hatte, war das Kunststück, abends halbwegs unbeschadet hier rauszukommen. Ach ja, und die Bilder an der Wand, braungelbgestreifte Leinwände in allen Größen und Varianten. Eine großzügige Spende zur Einweihung. Von Gaby Hollmann!!!
Sie gab Yvonne das aufgewärmte Fläschchen und warf einen Blick auf die Uhr. Halb elf. Heide müsste jeden Moment hier eintrudeln. Und da kam sie auch schon. Mit ihren bunten flatternden Kleidern und den langen roten Locken konnte sie glatt als Teil des Inventars durchgehen. Ihrer Freundin aus Studienzeiten hatte Katrin es zu verdanken, dass das Café so großen Anklang fand. Kaum hatte die spätgebärende Supermami ihren Sprössling in einer Blitzaktion auf die Welt befördert, langweilte sie sich auch schon in ihrem entlegenen Landhaus und machte das Café zu ihrem zweiten Zuhause. Um nicht allein dazusitzen, hatte sie eine Anzeige in einem alternativen Blatt geschaltet, alles zusammengetrommelt, was Windeln trug, und weil es so praktisch war, ihren Arbeitsort ganz nebenbei ins Café verlagert. Ihre psychologischen Beratungen und Kommunikationskurse hielt sie seitdem bei Cappuccino und Käsetorte ab, während sie ihren Nachwuchs vertrauensvoll der allgemeinen Obhut überließ. Immerhin, sie war eine der wenigen, die sie nicht Kaki nannten.
»Hi, Katrin. Alles okay?«
»Oh Mann, ich bin echt urlaubsreif!«
»Machst du mir bitte einen Cappuccino?« Heide ging weiter in den offenen Nebenraum, der in einer Wochenendaktion von den Eltern zu einem Spielparadies umfunktioniert worden war. Statt Kleinkunst lagerten Puzzles, Spielzeug und Märchenbücher in den Regalen, und neuerdings auch handgestrickte, genähte und aufgetragene Kinderwäsche, Kommissionsware, die auf neue Besitzer wartete.
Während Katrin den Kaffeeautomaten betätigte, fiel ihr Blick auf die Krabbelecke, wo Heide ihren Nachwuchs ablegte. Der kleine Gustav! Sie war damals echt schockiert gewesen, wie man ein so süßes Bündel Gustav nennen konnte. Mittlerweile aber fand sie, dass der Name perfekt zu dem Wonneproppen passte. Mit seinen sechs Monaten war er seinem Daddy wie aus dem runden Gesicht geschnitten. Wie ein nimmersattes Walross lag er in der Spielecke am Boden zwischen wild tollenden Kids, wurde von den größeren gestreichelt, gehätschelt, mit angeknabberten Keksen gemästet und strahlte stets über alle vier Backen. Gustav war eine Art Gemeinschaftseigentum. Alle liebten ihn und irgendwer war immer da, der sich seiner annahm.
Heide setzte sich an den Tisch neben der Bar, Katrin servierte ihr den Cappuccino und gesellte sich seufzend dazu. »Drei Wochen noch. Dann geht’s ab in den Urlaub!« Vor einem guten Jahr hatten sie und Paul sich mit zwei weiteren Pärchen zusammengetan und ein Haus am Gardasee gekauft. Neben Heide und deren Mann Siggi waren noch Gaby und Hanfred Hollmann mit im Boot gewesen. Als sich jedoch die Gelegenheit ergeben hatte, das Nachbarhaus zu kaufen, hatten sich die Hollmanns von dem Gemeinschaftsprojekt verabschiedet. Das war, wie Katrin fand, nicht die schlechteste Idee gewesen, denn mit einer kompromisslosen Möchtegernkünstlerin wie Gaby konnte man nicht unter demselben Dach wohnen.
»Ich find’s schade, dass wir nicht zusammen hinfahren«, sagte Heide. »Wir könnten uns eine schöne Zeit machen. Die Männer spannen wir zum Babysitten ein und wir gehen eine Runde segeln.«
»Die Hollmanns sind jetzt da unten und wenn Gaby in der Nähe ist, gibt es keine schöne Zeit, das weißt du doch«, beschwerte sich Katrin.
»Ach, komm, du übertreibst. Außerdem wohnen sie jetzt nebenan. Da gibt es doch gar keine Berührungspunkte mehr.«
Okay, nach den unüberwindbaren Differenzen, die es im letzten Jahr bei der Renovierung gegeben hatte, war es natürlich ein Glück, dass Gaby und Hanfred nicht mehr Miteigentümer waren. Aber musste es ausgerechnet das Nachbarhaus sein? Hätte nicht irgendein anderes Haus zufällig zum Verkauf stehen können, am gegenüberliegenden Seeufer zum Beispiel, oder am Lago Maggiore, oder besser noch, auf einem anderen Kontinent? Aber nein! Ihre Nachbarn zu Hause waren auch ihre Nachbarn am Gardasee. Das Wenigste, was Katrin tun konnte, war, nicht zur selben Zeit hinzureisen. Niemand konnte ihr das verdenken. »Es ist alles perfekt durchdacht. Paul und ich fahren, wenn die Hollmanns zurückkommen. Basta!«
Mit einer frischen Windel in der Hand und ihrem Sprössling auf dem Arm kam Vicky an den Tisch. »Gustav hat auch die Hosen voll.«
Heide setzte ihren Hundeblick auf. »Du, ich bin gerade in einem wichtigen Gespräch. Kannst du das nicht schnell mit erledigen? Du musst doch eh wickeln.«
»Klar doch, kein Problem.« Vicky zog ab in den Gang vor den Toiletten, wo der Wickeltisch stand. Noch so eine aufmerksame Zuwendung seitens der Elternschaft.
Es war ja auch ganz lieb von Heide und Vicky und Sonja und Rike und all den anderen jungen Müttern, dass sie nach den Startschwierigkeiten in ihren Kreisen Werbung für das Café gemacht hatten. Über fehlende Kundschaft konnte Katrin sich nicht beklagen. Aber leider über fehlende Umsätze.
»Kaki, die Apfeltarte, ist die mit Nüssen?« Maike stand vor der Vitrine und betrachtete das Angebot an Kuchen und Tartes.
Katrin erhob sich und ging hinter den Tresen. »Ja, da sind Haselnüsse drin.«
»Oh nee, die darf sie nicht. Hast du was ohne Nüsse?«
»Quarkkäsetorte, zum Beispiel.«
»Hm, Lactose bei Neurodermitis, nee du, das geht gar nicht.«
»Dann nimm doch den Reistaler. Der ist garantiert ohne Nüsse, ohne Lactose und ohne Fructose.«
»Ja, aber mit Gluten.« Unentschlossen stierte Maike noch einen Moment in die Vitrine.
Katrin wusste, wohin das führte. »Komm, pack schon deine eigenen Kekse aus!«, hätte sie am liebsten gesagt, doch sie verkniff es sich.
»Tja, dann kriegt sie eben dieselben trockenen Kekse wie immer. Ist doch okay für dich, oder?«
Katrin resignierte innerlich. Natürlich war es nicht okay, wenn man stundenlang vor einer Tasse Kaffee saß und obendrein noch seine eigene Verpflegung mitbrachte. Kein Lokal konnte so überleben. Aber das Schlimmste an der ganzen Geschichte war, dass Paul mit seiner Prognose mal wieder richtig lag. Vehement hatte er versucht, ihr das Café auszureden, und Ausdrücke wie Zuschussgeschäft und viel Arbeit und keine Zeit mehr für die Familie waren in jedem zweiten Satz gefallen. Wäre es nach ihm gegangen, läge das Geld jetzt festverzinst bei einer Lebensversicherung. Es nagte an ihr, dass er mal wieder recht behielt, und mehr als einmal hatte sie schon bereut, ihm überhaupt von dem Geldsegen erzählt zu haben. Doch in einem Moment der innigen Verbundenheit hatte sie es munter ausgeplaudert. Verschwiegen hatte sie lediglich die nicht ganz lupenreine Art und Weise der Beschaffung, zumal er in Hermann Müller seinen Erzfeind sah. Paul glaubte also an die Erbschaft ihrer entfernt verwandten Großtante in Texas, hatte ihr Dahinscheiden kurz bedauert, um nicht ganz pietätlos dazustehen, und sich prompt seinen sehnlichsten Wunsch erfüllt. Er hatte jetzt seine Doppelgarage, Katrin ihr kleines Café – und jede Menge Arbeit.
Sie setzte sich zurück zu Heide.
»Schließt du das Café, wenn ihr in Italien seid?«
»Ja. Die meisten Gäste verreisen ohnehin in den Ferien. Und du? Musst du nichts vorbereiten? Ihr fahrt doch morgen schon.«
»Die Koffer packt Siggi, und um die Verpflegung kümmert er sich auch.«
Eine Welle des Neides erfasste Katrin. Sie hätte Psychologie studieren sollen. So wie Heide. Die hatte es raus, Bekannte und Verwandte für sich einzuspannen. Paul würde nie auf die Idee kommen, die Koffer zu packen. Er packte ja nicht mal seinen eigenen. Katrins Unzufriedenheit nahm allmählich nie gekannte Ausmaße an. Es musste dringend etwas passieren.
Kapitel 2
Ein dumpfer Knall riss Hanfred Hollmann aus seinem süßen Traum: Er in seinem Feriendomizil auf seiner dick gepolsterten Sonnenliege im Schatten der weißgelbgestreiften Markise, auf dem Tischchen stapelweise Immobilienfachzeitschriften, seine Lieblingslektüre, daneben eine Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft, sein Lieblingsgetränk, Gaby inmitten ihrer Blumenbeete, ein Liedchen vor sich hin summend, die Rosenschere in der einen, das Körbchen in der anderen Hand …
Wieder dieses dumpf dröhnende Geräusch. Wie von einem Baufahrzeug. Sonderbar. Das konnte sich nur um eine Sinnestäuschung handeln. Er schmunzelte in sich hinein. Offenbar war er noch gar nicht richtig angekommen hier in Italien, am Gardasee, in seinem Ferienhaus. Denn eines gab es hier gewiss nicht: Baulärm. Hier gab es nichts als Ruhe und Besinnlichkeit, genau wie in seinem Traum. Nie hatten Traum und Wirklichkeit so nah beieinander gelegen. Zufrieden mit sich und der Welt atmete er durch und blickte in seinem gemütlichen Kingsize-Boxspringbett zu seiner Rechten. Gaby war schon aufgestanden. Kein Wunder, es war schon kurz nach elf. Wie lieb von ihr, dass sie ihn hatte ausschlafen lassen. Die Hinfahrt gestern war die reinste Tortur gewesen. Stunden hatten sie im Stau zugebracht, erst gegen zwei Uhr morgens waren sie hier eingetroffen und gleich todmüde ins Bett gefallen.
Jetzt aber hatte er allen Grund zur Freude. Tag Eins seines wohlverdienten Urlaubs war soeben angebrochen, ganze drei Wochen Entspannung, gutes Essen, guter Wein, Spaziergänge an der Uferpromenade, vielleicht ein Segeltörn, lagen vor ihm.
Die Koffer standen noch verschlossen am Fuß des Bettes. Normalerweise ließ Gaby es sich nicht nehmen, die Kleidung schnellstens in den Schrank zu hängen, damit sie möglichst wenig knitterten. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchströmte ihn bei dem Gedanken, dass sie die Aktion diesmal mit Rücksicht auf ihn verschoben hatte. Er streckte seine müden Glieder und dackelte gemächlich zum Fenster. Von hier oben konnte man das gesamte Grundstück in seiner vollen Blumenpracht überblicken.
Oder das gesamte Unheil!
Mit offenem Mund starrte er aus dem Fenster und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Was war denn da los? In seinem Garten! Verwirrt blickte er um sich. War er im falschen Haus gelandet? Ein erneuter dumpfer Knall holte ihn aus seiner Konfusion. Nein, das hier war sein Schlafzimmer, sein Bett, seine Koffer, es war sein Haus, aber was war mit seinem Garten passiert? Die Sträucher verschwunden, die Pinien gerodet, ein Lastwagen parkte mitten in den Blumenbeeten, beladen mit sonderbaren Kunststoffwänden, am hinteren Ende des Grundstücks klaffte ein riesiges Loch im Boden.
Dann entdeckte er Gaby. Sie redete mit zwei Männern, offenbar Bauarbeiter. Flink schlüpfte er in seine Latschen, rannte im Schlafanzug hinunter in den Garten und überquerte den gerodeten Boden.
»Gaby, was ist hier los? Was hat das zu bedeuten?«
»Hanni-Schatz, bist du endlich ausgeschlafen?«
Die Frage verwirrte Hanfred. Angesichts des Dramas, das sich hier vor seinen Augen vollzog, war sein Wohlbefinden geradezu bedeutungslos.
»Buon giorno, signore.« Breit grinsend musterten ihn die beiden Handwerker von oben bis unten. Verunsichert wickelte er die Pyjamajacke fester um die Brust und wandte sich mit zusammengezogenen Schultern seiner Frau zu. »Gaby, kannst du mir bitte mal erklären, was hier vor sich geht? Was tun diese Leute hier? Was sind das für Wände und was soll dieses große Loch in unserem schönen Garten?«
»Mach dir keine Sorgen, bis heute Abend ist das Loch verschwunden.«
»Verschwunden? Aber wieso ist es überhaupt da?«
»Sieh mich nicht so an! Ich war genauso überrascht wie du, als ich heute früh in den Garten kam. Eigentlich sollte es längst fertig sein. Aber das ist mal wieder typisch. Handwerker darf man einfach nicht allein lassen. Ich hatte dir gesagt, lass uns zwei, drei Tage früher fahren. Aber du wolltest ja nicht.«
Hanfred verstand nicht ganz, wovon sie redete. »Soll das heißen, das hier, das hat alles seine Ordnung?«
»Komm mal mit«, sagte sie in geheimnisvollem Ton.
Hanfred folgte ihr auf die Terrasse. Wenigstens die war noch an ihrem alten Platz.
Gaby griff nach einem der Ordner, die auf dem Tisch standen, nahm einen Prospekt heraus und reichte ihn Hanfred. »Hier, das ist er!«
Verdattert starrte Hanfred auf die Abbildung, die einen Swimmingpool mit einer gewölbten Überdachung aus Plexiglas zeigte. »Ein Swimmingpool? Aber wir haben einen Pool!« Er wies auf das Schwimmbecken am rechten Grundstücksrand. »Wir haben ihn erst im letzten Herbst neu fliesen lassen.«
»Hast du es nicht gesehen? Einige von den Fliesen sind schon geplatzt. Minderwertige Qualität, das werde ich reklamieren.«
»Aber … aber deshalb baut man doch nicht gleich einen komplett neuen Pool.«
»Du kannst einem aber auch wirklich jeden Spaß verderben. Es sollte eine Überraschung werden und ich dachte, du freust dich über einen überdachten Pool.«
Intuitiv blickte Hanfred zu ihrem alten, neu verfliesten Pool hinüber. Hätte man nicht einfach ein Glasdach darüber setzen können?
»Jetzt guck nicht so entgeistert. Ich habe dabei nur an dich gedacht. Oder hast du schon vergessen, wie sehr die Mücken dich letztes Jahr geplagt haben? Ich habe es jedenfalls nicht vergessen, denn ich habe mit dir mitgelitten. Und da ist mir die Idee zu diesem ganz besonderen Geschenk gekommen. Zu deinem 45. Geburtstag.«
»Zu meinem Geburtstag? Aber der ist im Februar.«
»Na, siehst du. Bis dahin wird alles fertig sein und nichts wird an die Baustelle erinnern.«
Wie angewurzelt verharrte Hanfred in seinen Schlappen auf dem Fleckchen plattgefahrener Erde, auf dem einst die schönsten Rosen blühten. Ja, das war Gabys Art, ihn zu überraschen. Es war genau die Art, die er seit zwei Jahrzehnten an ihr kannte, die er genauso lange fürchtete und gegen die er machtlos war. Sie machte ihm Geschenke, die er selbst bezahlen musste, und verwehrte ihm sein Mitspracherecht.
Gaby verpasste ihm ein Küsschen auf die Wange. »Jetzt guck doch nicht so konsterniert. Ich kann doch auch nichts dafür, dass die Italiener so unzuverlässig sind. Ich bin davon ausgegangen, dass wenigstens der Pool schon fertig ist, wenn wir kommen. So! Und jetzt zieh dir was an und mach uns ein leckeres Frühstück. Ich habe schon ein Loch im Magen.«
Hanfred stutzte. Wenigstens der Pool? »Äh, wieso wenigstens der Pool? Was kommt denn da noch?«
Gaby stemmte die Fäuste in die Hüften und warf ihm ein katastrophal verheißungsvolles Grinsen von der Seite zu. »Das zeig ich dir nach dem Frühstück. Du wirst staunen, Hanni-Schatz!« Entschlossenen Schrittes verschwand sie wieder zu den Bauarbeitern, die bis dahin untätig herumgestanden hatten, und koordinierte das Bauvorhaben, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie hatte alles fest im Griff. Wie immer.
Für Hanfred war der Traum von einem erholsamen Urlaub seit gerade eben ausgeträumt. Angestrengt versuchte er, das Chaos in seinem Kopf zu sortieren. Was hatte sie gesagt? Äh, genau. Frühstück. Immer noch leicht benebelt von den vielen unfassbaren Neuigkeiten taperte er in die Küche, wunderte sich über das frische Weißbrot in der Papiertüte und die vielen Leckereien im Kühlschrank, Butter, Käse, Mozzarella, Oliven, Schinken, Eier. Gaby musste schon im Ort gewesen sein und eingekauft haben. Er wusste selbst nicht, warum er sich überhaupt noch über irgendetwas wunderte, denn die Erfahrung sollte ihn inzwischen gelehrt haben, dass Gaby stets für eine Überraschung gut war. Manchmal hatte es ja auch was Positives. Er brach ein Stück von dem frisch duftenden Panino ab, fischte sich eine Scheibe Parmaschinken heraus und steckte den Happen in den Mund. Doch noch während des Kauens verging ihm der Appetit. Er konnte sich jetzt unmöglich an den Frühstückstisch setzen und so tun, als wäre alles wie immer. Sein Blick fiel durch das Fenster in den Garten, dorthin, wo nichts mehr so war wie immer, dorthin, wo alles anders war.
Er ließ die Kühlschranktür zufallen und ging hinaus auf die Terrasse. Einer der Ordner trug die Aufschrift SPA. Das war ihm eben schon aufgefallen, doch er hatte sich keinen Reim darauf machen können. Jetzt aber war es ziemlich klar, was es zu bedeuten hatte. Er schlug den Ordner auf und entdeckte diverse Architektenpläne. Nacheinander faltete er sie auf, Lageplan, Grundriss, Querschnitt, Ansichten, alles eindeutig auf dieses Grundstück zugeschnitten. Gaby plante eine Wellnessoase inklusive überdachtem Schwimmbad in ihrem gemeinsamen Garten und alles schien bereits in trockenen Tüchern.
Jetzt kamen ihm auch die auffallend vielen Termine in den Sinn, die sie in den letzten Wochen wahrgenommen hatte. Sie musste bei dem Architekten gewesen sein. Auch die zahllosen Skizzen, die sie gezeichnet und wieder verworfen hatte, fielen ihm jetzt ein. Er hatte angenommen, dass sie eine neue Skulptur entwarf und war, wie immer, nicht sonderlich an ihrer Arbeit interessiert gewesen. Ein unverzeihlicher Fehler, wie sich nun herausstellte, denn all ihre Aktivitäten der letzten Wochen, vielleicht sogar Monate, hatten mit dem Bauvorhaben zu tun gehabt.
Er überlegte und kombinierte. Von der Terrasse aus blickte man gen Süden, folglich auf die Nordseite des geplanten Gebäudes. Er nahm den Plan mit der Nordansicht zur Hand und hielt ihn in die Höhe, um sich ein Bild von seiner zukünftigen Terrassenaussicht machen zu können. Schnell stellte er fest, dass, was immer Gaby anpackte, groß werden würde. Das Bauvorhaben erstreckte sich über das hintere Drittel des Grundstücks und über dessen gesamte Breite, links das Gebäude für den SPA-Bereich, daran angrenzend der Pool mit Liegeterrasse, der bis zu den Nachbarn auf der rechten Seite reichte.
Gaby gesellte sich zu ihm. »Also, was sagst du zu deinem Geburtstagsgeschenk? Ist das nicht genial geplant?« Sie blätterte in den ausgebreiteten Plänen, zog den Grundriss heraus und legte ihn oben drauf. »Sieh mal hier, Hanni-Schatz. Das ist die Sauna, daneben Dusche und Tauchbecken, und hier der Massageraum. Ich habe alles eher klein gehalten, wir sind ja nur zu zweit. Aber wenn wir wollen, können wir es jederzeit erweitern, vielleicht um einen Fitnessraum. Das Fundament dafür haben wir gleich mit gießen lassen.«
»Wer ist wir?«
»Bodo Richter, der Architekt. Er hat die Planung gemacht, das heißt, er hat meine Ideen umgesetzt. Er selbst hat ja keine. Also, was sagst du?«
Hanfred starrte abwechselnd auf die Baustelle und auf den Plan. Erst jetzt wurde ihm das gesamte Ausmaß des Vorhabens klar. »Heißt das, ihr wollt eine Mauer direkt an der Grundstücksgrenze hochziehen?«
»So ist es angedacht.«
»Aber … aber das könnt ihr nicht machen!«, echauffierte er sich. Gleich neben der geplanten Mauer befand sich die Ruhezone der Nachbarn. Paul und Siggi hatten sie extra in den hintersten Bereich des Grundstücks gebaut, um möglichst weit entfernt von Gabys Bildhauerei zu sein. Hanfred beneidete sie um das schlichte und doch wunderschöne, vor allem aber kostengünstige Konstrukt: Ein Holzpodest überspannt mit einem Segeltuch als Sonnenschutz, mit genügend Platz für Yogaübungen und Meditation und zwei Liegen für die Siesta. Ein wahrlich einladendes Fleckchen Erde, das einen Urlaub versprach, wie er ihn sich wünschte.
»Wir sind schon dabei, Hanni-Schatz.«
»Aber eine Mauer würde die Ruhezone der Nachbarn verschatten. Und was ist mit dem Blick auf den See? Sollen sie stattdessen auf eine Wand starren?«
»Die Nachbarn werden sich bei uns bedanken. So sind sie doch vor Wind geschützt.«
Hanfred war der Verzweiflung nahe. Was sollte er darauf noch antworten? Er wischte seine schweißnassen Hände an der Schlafanzughose ab, atmete durch und versuchte es mit Sanftmut und Geduld. Er musste an ihren Verstand appellieren. »Gaby, was sollen wir mit einer Sauna? Wir sind hier in Italien. Da bräuchten wir eher eine Kühlkammer.«
Gaby zog die Augenbrauen hoch und blickte ihn erstaunt an. »Gar keine schlechte Idee. Eine Kühlkammer! Da kommt dann auch das Tauchbecken rein. Wir müssten etwas umplanen, aber es ist auf jeden Fall machbar.«
Resigniert setzte Hanfred sich. Der Schuss war nach hinten losgegangen. Und mit seiner Geduld war er auch schon am Ende, mit seiner Sanftmut erst recht. Irgendwas in ihm bäumte sich auf, er sprang hoch und ließ seiner Wut freien Lauf. »Aber wer soll denn das alles schon wieder bezahlen? Wir haben letztes Jahr das Haus erst gekauft, im Frühjahr haben wir es aufwändig saniert und jetzt das hier! Der Garten war ein Refugium, ein kleines Paradies. Sieh ihn dir jetzt an. Hast du dir überhaupt vor Augen geführt, wie überdimensioniert dein Bauvorhaben auf diesem Grundstück wirken wird? Wie konnten die italienischen Behörden dir dafür eine Baugenehmigung erteilen?«
Gaby schürzte die Lippen und schwieg.
Entsetzt starrte Hanfred sie an. »Nein!«
Pikiert zuckte Gaby mit den Schultern und schwieg weiter.
»Sag, dass das nicht wahr ist.«
»Wir sind hier in Italien. Hast du das vergessen? Ich habe hier nirgends auch nur den geringsten Hinweis auf eine Baubehörde gefunden. Würde mich nicht wundern, wenn es sowas hier gar nicht gibt. Hier baut doch jeder, wie er Lust hat.«
»Heißt das, du hast keine Baugenehmigung?«
»Und wenn schon. Wir sind hier fernab jeder Zivilisation. Wen also sollte das interessieren?«
»Unsere Nachbarn vielleicht?«, wollte Hanfred schon losbrüllen, doch im letzten Moment besann er sich. Plötzlich erkannte er die Chance darin. Er atmete ein paar Mal durch, um sich zu beruhigen. »Ich mach dann mal Frühstück«, sagte er nüchtern.
Misstrauisch blickte Gaby ihn an. »Hanni-Schatz, du machst doch keinen Blödsinn?«
Hanfred gab sich unschuldig. »Ich? Aber nein.« Nicht ich, dachte er bei sich, als er mit einem Quäntchen Zuversicht in die Küche ging.