Urlaub für Fortgeschrittene – Leseprobe

Kapitel 1

Katrin horchte auf. Perfekt! Paul brauste gerade mit dem Wagen davon. Prompt entledigte sie sich der Gummihandschuhe, warf die Schürze auf die Eckbank, und flitzte nach oben. So ungelegen, wie sie anfangs gedacht hatte, kam der Besuch der Nachbarn gar nicht. Nicht etwa wegen der Hollmanns – auf die hätte sie gut und gerne verzichten können. Aber so konnte sie nun ihren Termin wahrnehmen, ohne lang und breit erklären zu müssen, wohin sie ging, und wofür sie sich so herausputzte. Wozu die Pferde scheu machen, wenn sie noch gar nicht wusste, was bei dem Treffen herauskommen würde? Paul war für die nächsten drei, vier Stunden beschäftigt. Sie hatte eine extra lange Einkaufsliste erstellt – lauter Vorräte würde er kaufen, die vermutlich bis Weihnachten reichen würden. Bis er von diesem Marathon zurückkam, heute am Samstag, würde sie längst wieder zu Hause sein. Ihr werter Gatte durfte zwar alles essen, schlank und drahtig wie er war, aber wissen musste er längst nicht alles. Jedenfalls nicht gleich. Eine Strategie, die sich im Umgang mit ihm bewährt hatte.
»Lena, kannst du bitte unten ein bisschen aufräumen. Die Hollmanns kommen heute Abend und ich muss dringend noch mal weg.«
Lena saß gemütlich in ihrer Dachkammer auf dem Bett mit dem Notebook auf den Knien.
»Oh, deine Lieblingsnachbarn. Wie kommt’s?«
»Frag deinen Vater. Du, ich hab’s eilig. Kann ich mich auf dich verlassen?«
»Na klar. Eine Stunde hab ich noch.«
Katrin zog ihr bestes Kostüm an, dazu das einzige Paar High Heels, das sie besaß, trug Make-up auf und radelte so zu ihrem Treffpunkt in der Innenstadt. Mit etwas Verspätung – den fürs Radfahren ungeeigneten Schuhen wegen – kam sie schließlich an. Suchend blickte sie sich im Innenhof des gut besuchten Bistros um. Hatten sie ein Erkennungszeichen vereinbart? Sie konnte sich nicht erinnern. Wie sollten sie sich hier finden?
»Katrin!«, rief plötzlich jemand hinter ihr.
Katrin wandte sich um. »Hermann!«
Hermann Müller, Detektiv mit Ambitionen zur Schriftstellerei und Katrins hartnäckigster Verehrer aus alten Zeiten, kam breit lachend auf sie zu und umarmte sie mit Inbrunst. »Wie schön, dich zu sehen.«
Sanft wiegte er sie hin und her. Vor all diesen Leuten! Oh mein Gott, wenn ihre Verabredung sie hier so sah! Freundlich, aber bestimmt befreite sie sich aus seinen Klauen.
»Hermann, freut mich auch, wirklich, aber ich bin verabredet.«
»Ja, ich weiß. Mit mir!«
Katrin legte die Stirn in Falten. Da musste ein Missverständnis vorliegen. Das konnte nur ein Scherz sein. Ja, Paul wollte sie testen – nein, er wollte sie reinlegen. Das hier war »Versteckte Kamera«. Mit geschärftem Blick durchkämmte sie das Lokal nach verräterischen Indizien.
»Komm, setz dich zu mir.« Hermann hakte sich vertraut bei ihr ein und schob sie an seinen Tisch. »Was willst du trinken?«
Irritiert setzte Katrin sich. Ihr Blick schweifte derweil weiter in die Runde. Keine auf sie gerichteten versteckten Kameralinsen oder sich auffällig unauffällig verhaltende Komparsen zu entdecken.
»Kaffee? Kuchen? Du, die haben leckere Apfeltorte hier.«
»Prosecco für mich.«
»Hast auch recht. Unser Wiedersehen muss begossen werden.«
Hermann bestellte eine ganze Flasche. Kurz darauf brachte der Kellner die Prosecco-Flasche und zwei Gläser mit einer golden sprudelnden Flüssigkeit darin. Hermann prostete Katrin zwinkernd zu: »Na dann, auf uns beide.«
In einem Zug leerte Katrin ihr Glas.
»Katrin, Katrin, dass du dich auf so eine Anzeige meldest!« Hermann steckte sich eine Zigarette an und grinste ihr ungeniert entgegen.
Er hatte sich nicht verändert. Immer noch dieselbe unmögliche Frisur, mit der er sich seit jeher unwiderstehlich fand. Alle Augenblicke warf er das viel zu lange Deckhaar mit einer zackigen Kopfbewegung aus den Augen, oder klemmte es mit beiden Händen hinter die Ohren. Und dieser Dreitagebart! Bei manchen Männern wirkte er alles andere als sexy. Hermann war einer von diesen wenigen. Katrins gesamte Hoffnungen schmolzen dahin, als sie realisierte, dass ausgerechnet er es war, der hinter dem vielversprechenden Inserat steckte. Sie brauchte jetzt noch einen Schluck Prosecco.
»Für mich klang das seriös«, antwortete sie und schenkte ihr Glas voll.
»Oh, das ist es absolut!«
»Darf ich?« Sie nahm die Zigarettenschachtel. Eigentlich verabscheute sie das Zeug, jetzt aber hoffte sie auf eine beruhigende Wirkung. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
»Oh, ‘tschuldige. Natürlich.«
Katrin steckte sich eine an, sog den Rauch tief ein und lehnte sich nach hinten. Nun gut, wenn sie schon hier saß, konnte sie sich auch anhören, worum es ging. Der Text der Anzeige hatte ja so ziemlich alles offengelassen.
»Wie kommt’s, dass du Arbeit suchst? Kann Paul, der alte Geizhals, euch nicht mehr durchbringen? Oder hast du dich endlich von ihm getrennt?«
»Lass Paul aus dem Spiel, okay?«
»Ja, ja, schon gut. Aber seinen Kinnhaken hab ich bis heute nicht vergessen. Wie lange ist das her? Drei Jahre – und ich spür’s immer noch. Hier, fühl mal die Delle im Unterkiefer.« Er rieb sich das Kinn.
Katrin lehnte dankend ab und schmunzelte. Das war tatsächlich das erste Mal, dass Paul sich für sie geprügelt hatte. »Ich hatte in meiner E-Mail ja schon geschrieben, dass ich eine befristete Stelle in einem Immobilienbüro habe. In Kürze kommt die Sekretärin aus dem Mutterschutz zurück. Dann war’s das für mich. Keine Ahnung, wie viele Bewerbungen ich schon verschickt habe – ohne Erfolg. Ich bin vierzig. Da ist der Zug wohl abgefahren.«
»Für diesen Job, Katrin, bist du im allerbesten Alter.«
Neugierig lehnte Katrin sich vor. »Jetzt mal raus mit der Sprache. Worum geht’s?«
»Hast du gewusst, dass fünfundachtzig Prozent der italienischen Männer fremdgehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Bis vor Kurzem.«
»Und?«
»Eine dieser betrogenen Ehefrauen – klasse Frau übrigens, und steinreich – hat mich engagiert. Francesca heißt sie.«
»Ach! Eine Italienerin engagiert dich? Wie kommt sie ausgerechnet auf dich?«
Hermann streifte großmännisch sein Haar nach hinten. »Meine Homepage. Klasse Auftritt. Seriös und absolut vertrauenswürdig.«
Intuitiv zog Katrin die Augenbrauen hoch. Den Auftritt würde sie sich gern ansehen.
»Es wär ja auch witzlos, für den Job einen Italiener zu nehmen. Die Jungs sind untereinander alle per Du, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Schon. Aber …«
»Da ist ordentlich Kohle drin, Katrin, für mich, und wenn du willst, auch für dich.«
»Aber wofür denn nun genau?«
»Na ja«, druckste Hermann herum, »bin ja schon ’ne ganze Weile an dem Gatten dran. Der Hund ist treuer als der Dackel meiner Vermieterin. Und leider hat die Sache einen kleinen Haken: Die Kohle gibt’s nur im Erfolgsfall, verstehst du?«
»Äh, nicht so richtig.«
»Katrin, denk doch mal nach. Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen.«
Katrin rief sich den Text der Anzeige in Erinnerung und zuckte mit den Schultern. »Mach’s nicht so spannend.«
»Ich brauche einen Lockvogel!«
Katrin verschluckte sich am Rauch, hustete und drückte rasch die Kippe aus.
»Du, meine liebe Katrin, bist genau der Typ Frau, den die italienischen Männer lieben, ach, was sag ich, vergöttern. Und ich übrigens auch, aber das weißt du ja.« Seine Miene nahm leidende Züge an. »Als ich deine E-Mail las, da war alles wieder da … du, ganz in Weiß, neben dir Paul, der Griesgram, ihr beide vor dem Traualtar! Das war wie ein Dolch in meiner Brust.«
Es wurde Zeit aufzubrechen. Hastig warf Katrin einen Blick auf die Uhr. »So spät schon. Jetzt muss ich aber los. Die Familie wartet. Tut mir leid, aber für mich ist der Job nicht das Richtige. Du hast doch sicher noch andere Bewerberinnen.« Sie trank den letzten Schluck Prosecco, nahm ihre Tasche und erhob sich zum Gehen.
»Zwei Mille.«
»Bitte?«
»Zwei Mille für dich. Und Ferien in Garda. Hübscher kleiner Ort direkt am Gardasee. Wenn’s sein muss, mit Paul, dem Pfennigfuchser.«
Katrin schluckte. »Du spinnst.«
»Hier, meine Karte. Denk drüber nach. Ich wäre entzückt.«
Energisch trat Katrin in die Pedale. Sie war enttäuscht. Die erste Einladung auf ihre zahlreichen Bewerbungen – und dann das! Hermann Müller wie er leibt und lebt. Wofür hielt er sie? Sie sollte einen Italiener verführen, ausgerechnet sie, wo es in Italien von schönen Frauen nur so wimmelte? Er musste ein völlig verzerrtes Bild von ihr haben, sah womöglich immer noch das junge kesse Mädchen in ihr, das sie vor zwanzig Jahren mal gewesen war. Das alles war ja so absurd! Sie suchte eine Stelle hier vor Ort, im Büro, etwas Solides, etwas Dauerhaftes, etwas Berechenbares, etwas … Langweiliges.