Stockwerk Liebe

Große Gefühle auf kleinem Raum

Ein Tag vor Weihnachten in der Hausarztpraxis. Während das Team den letzten Arbeitstag des Jahres feiert und die Korken knallen lässt, wartet Conny in einem Nebenraum auf Weiterbehandlung. Plötzlich verstummt der Lärm vorn im Empfang, eine Tür fällt dumpf ins Schloss, dann ist es still. Fassungslos realisiert Conny, dass man sie vergessen hat. Als ausgerechnet ihr Ex aus dem Behandlungszimmer kommt, hält sie das Ganze für einen üblen Scherz. Doch auch er wurde einfach vergessen.

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Leserstimmen

  • spannend bis zum Schluss
  • lockerer Schreibstil, sympathische Protagonisten und ganz viel Humor.
  • viel zu Schmunzeln, Lachen und manchmal fließen auch Tränen
  • ein bewegender Roman mit spannender Familiengeschichte sowie einer bezaubernden Liebesgeschichte  

Leseprobe

»Constanze Bischoff. Ich habe einen Termin um zehn.«
»Ach so?« Patrizia, die junge MTA hinter dem Empfangstresen, zog die Augenbrauen hoch und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand.  
»Ich weiß, ich bin etwas spät, aber …«
»Lassen Sie mich raten: Sie standen im Stau.«
»Ja, das auch …«
»Willkommen im Club«, flötete jemand von irgendwo hinter oder unter dem Tresen.
Patrizia lächelte verschmitzt nach unten. Ein junger Mann kniete zu ihren Füßen und streckte jetzt seinen Kopf in die Höhe. »An einem Tag wie heute …«, grinste er breit und verschwand mit seinem Schraubenzieher wieder in der Versenkung.
»Tja, sind heut etwas out of order«, erklärte Patrizia schulterzuckend. »Ich komme nicht ins System. Theoretisch kann also jeder behaupten, einen Termin zu haben.« Sie kicherte, als hätte sie einen guten Witz gemacht und blickte wieder neckisch hinunter zu dem Techniker. 
Conny fand das nicht witzig. Ausgerechnet heute! Wenn sie eines nicht leiden konnte, war das Improvisation!
»Und was heißt das jetzt? Muss ich etwa wieder gehen?«
»Ach was«, rief Britta, eine weitere Arzthelferin, die gerade aus dem hinteren Bereich nach vorn marschierte. »Out of order ist heute nur unsere liebe Patrizia, wie mir scheint.«
Patrizias Grinsen verschwand augenblicklich und machte einer verlegenen Röte Platz. Britta steuerte den Aktenschrank an und öffnete die Schublade. 
»Wie war der Name?«
»Bischoff«, sagte Conny.
»Das kannst du dir sparen«, sagte Patrizia. »Wir sind schon bei F.«
»Ach! B ist schon im Keller?«
Patrizia nickte.
»Und das bedeutet?« fragte Conny ungehalten.
»Nichts weiter. Nehmen Sie doch bitte im Wartezimmer Platz, Sie werden dann aufgerufen. Es ging doch früher auch ohne Computer.«
Schon, dachte Conny, aber da gab es wenigstens Patientenakten. Sie sah hinüber in den Wartebereich, der zum Empfang hin offen war. Fünf Patienten saßen dort. Was das bedeutete, war nicht schwer zu errechnen. Fünfmal eine viertel Stunde – mindestens! Sie sollte die provisorische Situation für sich nutzen.
»Es geht ja bei mir nur um die Besprechung des Routinechecks«, säuselte sie Britta zu. »Dauert nur ein paar Minuten, wenn überhaupt. Vielleicht können Sie mich ja …«
»Vorschieben?«, fragte Britta lauter als nötig und warf Conny einen strafenden Blick zu. Aus dem Warteraum klang unwilliges Murren. 
Na klar! Das hätte Conny sich ja denken können. Improvisation ohne Flexibilität! Jeder Erstsemester-Betriebswirt weiß, dass das nur in die Hose gehen kann. 
»Und wie lange wird es in etwa dauern? Regulär, meine ich?«
Über ihre Brillenränder hinweg spähte Britta hinüber in den Wartebereich. »Dreißig, sagen wir, vierzig Minuten, mit etwas Glück geht’s schneller, kann aber auch länger dauern, gute Stunde vielleicht, allerhöchstens aber bis zwölf. Dann ist hier nämlich Feierabend.«
Nichts Genaues weiß man nicht, kam es Conny in den Sinn, ein flacher Spruch, den Joe gern vom Stapel gelassen hatte, und zwar immer dann, wenn die Zeit für eine konkrete Antwort reif war. Damit hatte er sie so manches Mal zur Verzweiflung gebracht. Nichts Genaues weiß man nicht! Nur eines hatte er genau gewusst: Dass er fortgehen würde. Aber das war lange her. Wie kam sie jetzt ausgerechnet auf Joe? Der war doch gar nicht ihr Problem. 
Sie beugte sich den unabänderlichen Tatsachen, hängte Mantel und Schal an die Garderobe und wählte den freien Platz direkt am Fenster.  

Es war der Freitag vor Heiligabend. Eine weiße Weihnacht war kaum zu erwarten. Draußen nieselte es bei acht Grad und daran würde sich laut Wetterbericht vorläufig nichts ändern. Conny ließ ihren Blick durch das Wartezimmer wandern und blieb an dem fett durchkreuzten Handy an der Infotafel hängen. Nicht mal telefonieren durfte man hier. Um sich die Zeit zu vertreiben, schnappte sie sich eine Zeitschrift mit dem vielversprechenden Titelthema: Mehr Gelassenheit mit Yoga. Das konnte nicht schaden.   
Kaum hatte sie die Zeitschrift aufgeschlagen, klingelte ihr Handy. Der beleibte Herr, der ihr gegenübersaß, schnaubte verächtlich und wandte seinen Kopf missbilligend in Richtung Infotafel. Auch die ältere Dame neben ihm blickte von ihrer Zeitschrift auf und verzog den Mund. Schuldbewusst zog Conny dennoch ihr Handy aus der Tasche. Es konnte etwas Wichtiges sein. 
»Ja?«  
»Conny, hab ich richtig gehört? Du willst den Job aufgeben? Und du willst ausziehen? Das kannst du doch nicht …«
Dann knackste es nur noch.
»Hallo? Dirk?« Mist. Conny schüttelte das Handy. Der Empfang war wieder mal gestört. Sie vernahm noch Ausdrücke wie egoistisch und im Alleingang, bevor der Akku endgültig seinen Geist aufgab. Wenn die Dinge schiefliefen, dann aber richtig. Deprimiert steckte sie das Handy wieder weg. Dirk nahm sicher an, dass sie das Gespräch absichtlich unterbrochen hatte. Aber das stimmte nicht. Der Akku war tatsächlich defekt. Allerdings kam es ihr gar nicht so ungelegen. Sie war nicht in der Verfassung, mit ihm zu reden. Nicht jetzt.
Die Dame gegenüber schüttelte immer noch fleißig den Kopf. 
Conny kramte in der Handtasche nach ihrem Notizbuch und schlug die To-Do-Liste auf, die sie heute, einen Tag vor Heiligabend, dringend noch abzuarbeiten hatte. Handy-Akku stand bereits ganz oben. Das durfte sie auf keinen Fall vergessen. Sie umrandete das Wort mit fetten Strichen und überflog die Liste. Weihnachtsgrußkarten einwerfen – wenn es dafür nicht ohnehin zu spät war – Friseur, Geschenke: Mama, Papa, Dirk, Schwiegereltern, Erika, Friedhelm und Kids. In einem Anflug von Dankbarkeit ergänzte sie die Liste um Verena
Sie lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Sie hatte Verena Unrecht getan. Mal wieder. Warum zweifelte sie nur immer wieder an ihrer Aufrichtigkeit? Sie war die beste Kollegin, die sie sich wünschen konnte, und sie war ihre Freundin. Zu Connys Kater gesellte sich nun auch noch das schlechte Gewissen bei dem Gedanken, mit welchen Vorwürfen sie sie gestern Abend überfallen hatte. Zum Glück war nun alles wieder in Ordnung. Verena hatte eine bewundernswert souveräne Art, mit Problemen umzugehen und sie, Conny, wusste jetzt, wie unvermeidlich eine radikale Kehrtwendung in ihrem Leben war.
Sie räumte ein, dass sie Dirk ihren Entschluss schonender hätte beibringen können. Noch bevor er richtig wach war, hatte sie ihn vor vollendete Tatsachen gestellt und ihn ohne jede Chance auf Widerspruch zurückgelassen. Nein, er hatte sich nicht verhört, sie würde den Job aufgeben und sie würde aus dem Haus der Eltern ausziehen, in dem sie das Obergeschoss zusammen mit Dirk bewohnte. Genau genommen wohnte sie deshalb dort, weil sie keine Miete zahlen musste. Falsch! Sie wohnte nur dort, weil es Dirk entgegenkam, keine Miete zahlen zu müssen. Oh Mann! Wenn sie darüber nachdachte, wie sehr sie sich in den letzten Jahren mit ihrer Bequemlichkeit arrangiert hatte! Es war unfassbar. Aber Verena hatte ihr die Augen geöffnet. Sie sollte jetzt an sich denken, und nur an sich! Sonst tat es nämlich keiner. Ab sofort würde sie auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. 

Mit einem lauten Knall stieß jemand die Tür zur Praxis auf und riss Conny aus ihren revolutionären Gedanken. Ein Mann im dunkelgrauen Wollmantel stürmte auf den Tresen zu.
»Ich brauche einen Arzt! Sofort!« Nach Luft ringend, löste er mit der einen Hand die Krawatte und mit der anderen hielt er sein Herz fest, als könne es herausspringen.   
»Frau Doktor ist im Gespräch. Worum geht es denn?«, fragte Britta mit der Unerschütterlichkeit einer erfahrenen Arzthelferin.  
»Mir geht es beschissen! Das sehen Sie doch!«, rief der Mann hysterisch, krallte sich mit beiden Händen am Mantel fest und tapste unruhig vorm Tresen auf und ab. 
Das ist ja eine nette Art, sich vorzudrängeln, schoss es Conny durch den Kopf: Krawatte lösen, Haar zerzausen, etwas keuchen und auf Notfall machen! Nur mit Mühe widerstand sie dem Impuls, aufzuspringen und klarzustellen, dass sie jetzt an der Reihe war. Sie wollte nicht für seine Herzattacke verantwortlich sein, falls er doch nicht simulierte.
»Haben Sie eine Versichertenkarte?«
Da reckte der Techniker seinen hübschen Kopf über den Schreibtisch hinweg und grinste mit Blick auf das Kabelgewirr zwischen seinen Fingern: »Die wird Ihnen nichts nützen, gute Frau.«
Britta tippte sich an die Stirn und schob dem Mann Stift und Zettel hin. »Tragen Sie hier bitte Namen, Anschrift und Krankenkasse ein. Aber einen Moment wird’s noch dauern.«
»Nein, bitte. Ich kann nicht warten.«
»Wie gesagt, Frau Doktor ist im Gespräch.«
»Und das heißt?«
»Es kann einen Moment dauern.«
»Und wie lange?«
»Je nachdem.«
»Je nach was?«
»Je nachdem, wie lange es bei Frau Doktor noch dauert.«
»Nichts Genaues weiß man nicht, oder wie?«, spottete er aufgebracht.
Conny stockte der Atem. Natürlich! Diese Stimme! Es war die Stimme von Joe. Der schnieke Typ da vorn war Joe! Intuitiv schob sie die Zeitschrift ein Stück höher und blinzelte darüber hinweg. Wie er sich verändert hatte! Die schönen Locken abgeschnitten, wie konnte er nur! Und überhaupt. Er wirkte aufgeräumt, gepflegt und seriös – abgesehen von seinem Auftritt hier. Aber das passte zu ihm. Immer ein bisschen mehr als nötig. So war er immer schon gewesen.
»Na gut«, lenkte Britta ein, »dann kommen Sie mal mit.« Joe folgte ihr den Gang entlang in den hinteren Bereich.
Conny atmete auf. Er würde hoffentlich weg sein, wenn sie hier rauskam. Sie legte keinen Wert auf eine Begegnung mit ihm. Nicht ausgerechnet heute.  
»Frau Bischoff, bitte!«
 Na endlich. Conny stand auf und folgte Patrizia in einen kleinen düsteren Raum mit einem Haufen Apparaten, Schläuchen, Saugnäpfen, Klammern und einer Liege. 
»Ziehen Sie bitte Schuhe und Strümpfe aus und machen Sie den Oberkörper frei. Wir müssen noch ein paar Tests machen. Ich bin dann gleich bei Ihnen.«
»Tests? Wozu? Ist etwas nicht in Ordnung mit meinen Werten?«
»Das besprechen Sie am besten gleich mit Frau Doktor.«
Patrizia ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Ein paar Tests – auch das noch! Wie angewurzelt stand Conny auf der Stelle. Sie könnte die Prozedur einfach verschieben. Aber nein! Unmöglich! Sie kannte sich. Die offene Frage nach einer potentiellen Krankheit würde ihr die Feiertage vermiesen. Also, Augen zu und durch. Sie zog ihre Sachen aus, legte sich auf die kühle, unbequeme Liege und faltete die Hände auf dem Bauch.
Nach ein paar Atemzügen spürte sie, wie unruhig es in ihrem Innern war. Die Hände zitterten, die Brust war wie eingeschnürt, der Atem flach und gehetzt, der Hals kratzte und in ihrem Magen rumorte es. Abende wie den gestrigen sollte sie in Zukunft besser meiden. Eine ganze Flasche Wein hatte sie getrunken, wenn nicht sogar mehr. Was hatte sie doch gerade in der Yoga-Zeitschrift gelesen? Tief ein- und ausatmen, die Sorgen auf eine Wolke setzen und weiterziehen lassen. Conny schloss die Augen. Und dachte an Joe.  
Was sie wohl mit ihm gemacht hatten? Ob es ihm tatsächlich so dreckig ging? Vielleicht lag er jetzt in dem Raum neben ihr, direkt hinter dieser Wand, vielleicht könnten sie sich die Hände reichen, wenn die Wand nicht wäre. Wie er sich verändert hatte! Seit damals hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Dreizehn Jahre war es her.
»Wir machen jetzt ein EKG!« Mit ungebremstem Schwung platzte Patrizia in den Raum. Sie schaltete einen der Apparate ein, klemmte übergroße Wäscheklammern an Connys Fuß- und Handgelenke und begann, haufenweise Saugnäpfe auf ihrem Oberkörper zu positionieren. Conny schnupperte neugierig, um den Geruch zu definieren, der ihr entgegen schwappte.
»Ah, der Sekt. Wir sind gerade mit unserer Weihnachtsfeier angefangen«, sabbelte Patrizia drauf los. »Britta, unsere Spaßbremse, ist schon weg, jetzt können wir es krachen lassen. Frau Doktor ist da nicht so. Die macht jeden Quatsch mit. Gleich kommen die Kollegen von oben, die aus der Frauenarztpraxis. Und jetzt halten Sie sich fest: Unsere Frau Doktor Fröhlich und Doktor Fritsch aus dem fünften Stock, die beiden hat’s erwischt, aber so richtig. Das ist so süß, wie die sich immer heimlich angucken. Vor den Angestellten wollen sie es natürlich verheimlichen, aber wir sind ja auch nicht blöd. Bin gespannt, wann der Antrag kommt. So ein Antrag ist ja immer so romantisch. Wir treffen uns gleich hier und dann geht’s auf den Weihnachtsmarkt.«
»Ach, wie schön.« Conny wurde neidisch auf das kleine familiäre Team, das sich offenbar recht gut verstand. »Sagen Sie mal … dieser Mann da vorn, na, Sie wissen schon, was ist denn mit dem?«
»Er ist Ihnen aufgefallen?«, schoss es aus Patrizia raus.
»Der war ja nicht zu übersehen.«
»Stimmt«, kicherte die Arzthelferin und ihre Wangen röteten sich ein wenig. »Aber Finger weg. Der gehört mir.«
Es dauerte einen Moment, bis Conny begriff, dass Patrizia von dem Techniker redete.
»Ach so. Er ist Ihr Freund?«
»Noch nicht. Ich kenne ihn ja erst seit zwei Stunden. Aber er ist der Richtige. Das spüre ich.«
»Dann wünsche ich viel Glück.« 
»So! In ein paar Minuten bin ich zurück«, flötete Patrizia heiter und schon war sie wieder verschwunden.
Conny hätte gern etwas mehr über Joe erfahren. Bei Patrizia war sie da wohl an der falschen Adresse. Die dachte offenbar nur noch an ihren Techniker. Egal. Joe ging sie ja auch überhaupt nichts an. Allerdings war die Frage interessant, was er in der Stadt zu tun hatte. Vermutlich besuchte er einfach nur seine Eltern, wegen Silberhochzeit, Geburtstag, Trauerfeier, etwas in der Art. Wie auch immer. Es ging sie nichts an. Sie sollte sich besser Gedanken über die Weihnachtsgeschenke machen, die sie noch besorgen musste. Sie hatte ja noch keinen blassen Schimmer, wem sie was schenken konnte.   
»Ups!«, kicherte Patrizia ein paar lange Minuten später. Sie zog einen Papierbogen aus dem kleinen Drucker und begutachtete ihn. »Da ist wohl was schiefgelaufen.«
Zum Beweis hielt sie Conny den Ausdruck vor die Nase. Die aber konnte mit dem schnittmusterähnlichen Stück Papier ohnehin nichts anfangen.
»Müssen wir den Test etwa wiederholen?«
»Geht doch ganz schnell. Oder wollen Sie, dass Frau Doktor mit mir schimpft?«
Das war ja glatte Erpressung.
»Bin gleich wieder da!« Patrizia huschte hinaus und kam kurz darauf mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück. »Jetzt dürfen wir. Kein Patient mehr da«, kicherte sie, reichte Conny ein Glas und prostete ihr zu.
Conny fragte sich insgeheim, ob sie nicht zur Gruppe der Patienten zählte, freute sich aber dennoch über die willkommene Abwechslung. Sie dachte an die haarsträubende Theorie – wer immer die in die Welt gesetzt hatte – die besagte, dass die wirkungsvollste Methode, einen Kater zu bekämpfen, diejenige sei, am Morgen mit dem anzufangen, womit man am Abend zuvor aufgehört hatte, wobei Sekt durchaus als Wein durchgehen konnte. Sie hob den Kopf an, trank das Glas in einem Zug leer, legte sich wieder zurück und wartete auf die durchschlagende Wirkung. 
Auch Patrizia hatte einen erstaunlichen Zug am Leib. Sie stellte die beiden leeren Gläser zur Seite, verharrte dann einen Moment mit zusammengekniffenen Augen, als überlegte sie, was sie gerade noch zu tun gedacht hatte, dann schwang sie ihren rechten Zeigefinger wie ein Dirigent den Taktstock und machte sich daran, die Saugnäpfe auf Connys Oberkörper zu kontrollieren. >>Markus kommt mit!«, zwitscherte sie indes entzückt. 
Conny zog die Stirn kraus.  
»Der süße Techniker! Er geht mit mir … mit uns auf den Weihnachtsmarkt. Ich glaube, er mag mich.«
»Wie schön für Sie.«
»So! Sitzt alles noch fest. Also: Same procedure again!« Patrizia schaltete das Gerät erneut ein und überzeugte sich davon, dass es diesmal ordnungsgemäß funktionierte. Jedenfalls hätte ein Laie es so interpretieren können.  
Aus dem Vorraum waren plötzlich lauter aufgeregte Stimmen zu vernehmen, Sektkorken knallten, munteres Gelächter und Gekicher ertönte. 
»Sie sind da! Die von oben sind da!« Die MTA schnappte sich die beiden Sektgläser, geriet dabei ins Wanken und stützte sich kurz an der Wand ab. Peinlich berührt grinste sie Conny an.  
»Äh, könnte ich eventuell noch ein zweites …?«, fragte die vorsichtig an.
»Echt süffig, das Zeug, was?«
Kurz darauf kam Patrizia mit einer halb vollen Flasche Sekt zurück, reichte sie Conny und taperte, so schnell wie sie gekommen war, auch schon wieder hinaus. Conny wollte noch um ein Glas gebeten haben, aber zu spät. Vorsichtig, um die Klammer am Handgelenk nicht abzustreifen, führte sie Mund und Flasche zusammen und ließ die leise prickelnde Flüssigkeit die Kehle hinunter strömen. Tat das gut! Ja, das entspannte! Lächelnd legte sie den Kopf zurück, die Flasche griffbereit an ihrer Seite, das leise monotone Rattern des Druckers am Ohr, und landete mit ihren Gedanken abermals bei Joe.
Was tat er eigentlich hier? Warum war er nicht Gott weiß wo, dort, wohin es ihn damals verschlagen hatte? Von seiner unkonventionellen Einstellung, die sie so sehr an ihm fasziniert hatte, war offenbar nicht viel übriggeblieben, geschniegelt und gestriegelt, wie er war. Zumindest war jetzt klar, dass sie beide sich in völlig verschiedene Richtungen entwickelt hatten und sie empfand ein leises Bedauern über die vielen Tränen, die sie ihm noch nachgeweint hatte. Irgendjemand hatte mal gesagt, dass der erste Freund nur selten die große Liebe war. Da war wohl etwas dran. 
Nebenan wurde munter gefeiert. Gelächter und Musik hatten inzwischen Partylevel erreicht. Conny erfasste ein herrlich angenehmes Scheißegal-Gefühl. Ihr ging es ausgesprochen gut hier auf der Liege, die sie inzwischen warm gelegen hatte. Ihr war es lange nicht so gut gegangen. Die Theorie mit dem Kater und dem Wein stimmte auffallend. Gut zu wissen. Auch fürs nächste Mal. Sie grinste vor sich hin, ließ im Rhythmus der Musik die Schultern kreisen, setzte die Flasche an und nahm einen ordentlichen Schluck. Solange noch Sekt in der Flasche war, brauchte Patrizia hier nicht wieder anzutanzen.
Joe war sicher schon gegangen. So schnell wie er gekommen war, war er auch verschwunden. Gut so. Dann würden sie sich nicht über den Weg laufen. Allerdings wurmte es sie, nicht zu wissen, was er hier tat. Ob er wieder hier lebte? Nein, völlig ausgeschlossen. Er hätte sich bei ihr gemeldet, aus alter Verbundenheit. Oder etwa nicht? Hätte er es fertiggebracht, sich nicht bei ihr zu melden? Na klar, hätte er. Ihn plagte sicher noch das schlechte Gewissen über seinen egoistischen Abgang. Falls er ein Gewissen überhaupt besaß. Ach Joe! Immer nur Joe! Wieso musste der überhaupt hier aufkreuzen? Der sollte sie doch in Ruhe lassen!
Conny nahm den letzten Schluck aus der Flasche. So! Jetzt konnte Patrizia kommen. Wie spät es wohl war? Sie schielte hinüber zu dem Hocker, auf dem sie ihre Kleider abgelegt hatte. Die Armbanduhr lag oben drauf. Vorsichtig streckte sie den linken Arm aus, reckte sich, und noch ein Stück, noch ein kleines Stückchen, zwei Zentimeter noch … und schwupp, rutschte ihr Oberkörper von der Liege herunter. Reflexartig stützte sie sich mit der Hand am Boden ab. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte das graumelierte Linoleum küssen müssen. Wie kam sie jetzt wieder hoch? Vor allem, wie kam sie hoch, ohne die ganze Apparatur, an der sie hing, in Mitleidenschaft zu ziehen?  
»Hallo!« rief sie um Hilfe.
Die Stimmung im Vorraum schien kaum mehr zu toppen zu sein. Schallendes Gelächter durchdrang den letzten Winkel dieses kleinen Raumes.
»Patrizia! Hallooo!« Wieso, verflixt, hörte sie denn niemand? Sie musste es selbst versuchen, musste sich wieder auf die Liege zurück bugsieren. Aber wie?
Draußen immer noch dieses alberne kindische Gegacker! Konnten die nicht einfach mal die Klappe halten? Nur für eine Minute?
»Patrizia!«, krächzte Conny heiser. Der linke Arm lahmte und ihr gesamtes Blut schien mittlerweile in den Kopf gesackt zu sein.
Nichts. Keiner dieser verdammten Idioten hörte sie.
Mit einem Mal klangen die Stimmen anders, leiser, weiter entfernt.
Eine Tür fiel dumpf ins Schloss.
Dann war es still.

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