Jeder liebt auf seine Weise – Leseprobe

Kapitel 1

1972

»Ist das jetzt modern?«, frotzelte Adele. Wie eine Trophäe hielt sie den Rosenkranz in die Höhe, den sie dreist hinter meinem Rücken aus meinem Etui gezerrt hatte. Neugierig gesellten sich ein paar Mädchen aus der Klasse dazu.
»Gib den her!« Ich schnappte nach der Kette, doch Adele wandte sich blitzschnell um, legte den Rosenkranz um ihre Hände und faltete sie in theatralischer Manier zum Gebet Richtung Zimmerdecke.
»Heilige Maria Mutter Gottes, lass es bitte endlich Mittag werden, damit ich mir eine Pommes Mayo holen kann! Ich sterbe vor Hunger.« Dann sackte sie auf dem Stuhl in sich zusammen wie eine elendig Sterbende. Inzwischen hatte sich die gesamte Klasse ringsherum versammelt, um die komische Darbietung nicht zu versäumen. Mucksmäuschenstill wohnten alle dem Schauspiel bei, während Adele sekundenlang leblos auf dem Stuhl verharrte, um dann gackernd in die Höhe zu schießen. Alle applaudierten, jubilierten und lachten mit.
Ich lachte nicht. Ich merkte, wie mir der Mund offenstand, während ich Adele anstarrte. Es traf mich zutiefst, dass sie mich zum Gespött machte. Es war nicht die erste Vorstellung dieser Art, die ich in den wenigen Tagen, die wir uns nun kannten, miterlebte, aber es war das erste Mal, dass sie mich zum Opfer auserkoren hatte und das machte mich unsagbar wütend. Ich hatte nämlich schon angefangen, sie als meine neue Freundin zu betrachten, denn bis gerade eben hatte ich sie eigentlich gemocht. Sie war immer lustig, alberte im Unterricht herum, schnitt Grimassen und imitierte die Lehrer, wenn die der Klasse den Rücken zuwandten. Jetzt aber hatte sie es sich mit mir verscherzt. Niemand durfte sich herausnehmen, den Rosenkranz, den meine Großmutter mir zur Kommunion geschenkt hatte, zu veralbern.
»Du bist so respektlos«, fauchte ich ihr entgegen und riss ihr den Rosenkranz aus der Hand.
Zum Glück betrat Frau Wieshaupt, unsere Bio-Lehrerin, das Klassenzimmer und alle verzogen sich flott auf ihre Plätze. Ich warf Adele noch einen bösen Blick zu und rutschte so weit wie möglich an den äußeren Rand unserer gemeinsamen Bank. Sie sollte ruhig spüren, dass ich für solche Scherze nichts übrig hatte.
Nach Schulschluss packte ich schnell meine Sachen zusammen und marschierte zum Fahrradständer. Ich wollte nur nach Hause.
»Sollen wir zusammen die Bio-Aufgaben machen?«, fragte Adele, die plötzlich neben mir stand.
Ich sah kurz auf, antwortete aber nicht, sondern klemmte meine Tasche auf den Gepäckträger. Warum fragte sie das ausgerechnet mich?
»Bei mir ist keiner zu Hause, da können wir die Bude auf den Kopf stellen.«
Ungerührt rollte ich mein Rad aus dem Ständer.
»Wir können Musik hören und tanzen. Ich habe die neusten Platten aus der Hitparade.«
Ich stockte. »Echt?«
»Na klar. Juliane Werding, Christian Anders, Middle of the Road, hab ich alle da.”
»Auch Sacramento?«
»Na klar.«
Sacramento! Mein absolutes Lieblingsstück. Das musste ich haben. Unbedingt! »Kannst du mir das auf Kassette aufnehmen?«
»Na klar. Aber ich hab keine Leerkassetten.«
Ich spürte mein Herz schneller schlagen. »Ich hole schnell eine von zu Hause und komme dann sofort zu dir.«
»Nee du, das finde ich blöd. Dann sitze ich da und warte.« Adele warf einen Blick hinüber zu Ute und Marita, die ein paar Meter weiter ihre Räder aufschlossen.
»Oder du kommst mit zu mir, dann essen wir was und fahren zu dir«, schlug ich schnell vor.
Damit war Adele prompt einverstanden. Wir schwangen uns auf die Fahrräder und radelten zur Gärtnerei meiner Eltern, die sich am Rand der Kleinstadt befand.
Adele schien absolut überwältigt zu sein, als sie ihren Blick über das weitläufige Gelände mit den unüberschaubaren Baum- und Strauchreihen, den Blumenbeeten und dem riesigen Gewächshaus wandern ließ. Reglos verharrte sie auf dem Fleck und zum ersten Mal erlebte ich sie sprachlos.
Das amüsierte mich. »Hast du noch nie eine Gärtnerei gesehen?«
»Äh, ja doch, aber … gehört das alles euch?«
»Ja, bis zu den Birken dahinten.«
»Toll!«, sagte Adele hingerissen.
»Ja, es ist toll, aber es ist auch viel Arbeit. Irgendwo ist immer was zu tun. Vor der Schule gehe ich in den Stall und sammle die warmen Eier aus den Nestern, nach der Schule füttere ich die Hühner, und abends sperre ich sie in den Stall, damit die Marder sie nicht holen.« Tatsächlich war es für mich keine Arbeit, sondern ein Vergnügen, denn ich liebte meine Hühner. Sie erinnerten mich an den Hof meiner Großeltern, auf dem wir bis vor kurzem noch gelebt hatten. Mein Vater hatte seine Arbeit verloren, woraufhin er den Schritt in die Selbstständigkeit wagte. Er hatte die Chance ergriffen, eine Gärtnerei in dreihundert Kilometer Entfernung zu übernehmen. Meine Großeltern fehlten mir sehr, doch einen unschlagbaren Vorteil hatte unser neues Zuhause. Alle vier Kinder hatten ihr eigenes Zimmer und ich war nicht mehr den Launen meiner Schwester ausgeliefert. Wenn es nach ihr ginge, dürfte kein Mensch auf der Welt lachen, tanzen, nicht mal husten. Renate war hochgradig empfindlich.
»Komm, die Hühner warten auf mich.« Ich ging voraus zu dem kleinen, fast baufälligen Fachwerkhaus, das sich hinter einer hohen Hainbuchenhecke versteckte und in dem Saatgut, Blumentöpfe und Gartengeräte gelagert wurden. Auf der Wiese nebenan liefen meine Hühner herum und an der Rückseite des Hühnerstalls standen ein alter Kirschbaum und darunter eine Bank, mein absoluter Lieblingsplatz.
»Wie aufregend«, bemerkte Adele, als ich die knarrende Tür öffnete. Ich nahm den Futtereimer aus dem Regal und füllte ihn mit Körnen.
»Wohin geht denn die Treppe?«, fragte Adele.
»Da würde ich lieber nicht raufgehen, da wimmelt es von Spinnen. Mein Vater sagt, dies war früher mal das Wohnhaus, und da oben haben die Leute geschlafen. Das kann man sich gar nicht vorstellen, so gruselig wie es da ist. Ich bin immer froh, wenn ich hier schnell wieder raus bin.« Ich drehte mich um, doch Adele war nicht mehr zu sehen. »Adele?«
»Ich bin hier oben. Komm doch mal rauf!«
Ich stellte den Eimer hin und tappte vorsichtig die schmale Stiege hinauf.
»Ist das nicht toll hier! Ein Bretterboden wie im Theater!« Begeistert stampfte Adele mit den Füßen über den Boden. »Hier können wir tanzen, Theater spielen und die Musik laut aufdrehen. Das ist viel besser als in meinem kleinen Zimmer.«
Ich blickte mich verblüfft um und fragte mich, wie man diesem düsteren Mansardenzimmer mit dem sparsamen Fenster an der Giebelseite etwas Nettes abgewinnen konnte.
»Und der ganze Krempel, der hier rumliegt, den brauchen wir. Das sind unsere Requisiten. Sowas hat man im Theater. Die haben da hunderte von Kostümen und Krimskrams. Ich weiß das, meine Mutter arbeitet im Theater. Sie nimmt mich oft mit.«
Ein paar Kleinmöbel standen herum, ein Nachtschränkchen, ein Sekretär mit Aschenbecher und Pfeife, ein durchgesessener Ledersessel, ein Holzkreuz an der Wand, einige Bilderrahmen mit Fotografien, ein Nachttopf mit Deckel und noch andere unnütze Gegenstände.
»Ich muss jetzt die Hühner füttern.«
»Nach dem Essen machen wir hier sauber und dann tanzen wir und spielen Theater«, sagte Adele entschlossen.
Ich misstraute der Idee, obwohl ich grundsätzlich nichts dagegen hatte, irgendwo ungestört singen und tanzen zu können.

Meine Eltern, Renate und Thomas saßen bereits an dem großen Esstisch, als ich mit Adele in die Küche kam. Nur Heinz verbrachte neuerdings seine Mittagspausen in der Stadt. Er hatte eine Lehre als Bankkaufmann begonnen, was meinen Vater sehr enttäuscht hatte. Der hätte ihn lieber in seiner Gärtnerei gesehen.
»Ich habe eine Freundin mitgebracht«, sagte ich.
Meine Mutter setzte ihren kritischen Blick auf und nahm Adele ins Visier. »Setzt euch und nehmt euch, bevor es kalt wird!«
»Das ist Adele. Wir wollen zusammen für Bio lernen.«
»Du heißt Adele? Was für ein hübscher Name«, sagte meine Mutter.
»Ja, wie die Schauspielerin Adele Sandrock. Nach ihr hat meine Mutter mich benannt. Sie vergöttert die Sandrock. Und ich werde auch mal so eine berühmte Schauspielerin.« Keck warf Adele ihren dunklen Krauskopf in den Nacken.
Renate verzog den Mund. Es passte ihr wohl nicht, dass ihr jemand die Show stahl. Das freute mich ein bisschen.
»Ist deine Mutter auch Schauspielerin?«, fragte meine Mutter Adele weiter.
»Nö, aber sie arbeitet im Theater. Sie näht Kostüme.«
»Und dein Vater?«
»Der ist abgehauen, als ich noch klein war, sagt meine Mutter.«
Ohne den geringsten Anflug des Bedauerns aß Adele munter weiter, während wir anderen wie auf Kommando das Kauen einstellten und sie mitleidig anstarrten.
Adele amüsierte sich über unsere verdutzten Blicke. »Ist aber nicht schlimm. Ich kenne ihn ja nicht mal. Und was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen, sagt meine Mutter.«
Das klang halbwegs einleuchtend, und so kehrte wieder Leben ein am Mittagstisch.

Nach dem Essen bewaffneten wir uns mit Eimer, Besen, Schrubber und Putzmitteln und marschierten hinüber zum Häuschen. Wir rissen die dunkelgrünen Vorhänge herunter, befreiten die Wände von Spinnweben, putzten das Fenster, fegten den Boden, wischten über die Möbel und sortierten die Requisiten in ein halbhohes Regal, das wir von unten aus dem Lagerraum geholt hatten.
»Es muss toll sein, Geschwister zu haben«, sagte Adele währenddessen.
»Ja, wenn wir zusammen Spiele machen, ist es immer lustig. Aber das kommt nicht mehr so oft vor, eigentlich gar nicht mehr. Die Großen haben ja nie Zeit. Und mit Thomas allein macht es keinen Spaß. Er gewinnt immer. Keine Ahnung, wie er das anstellt.«
»Ich hätte gern eine größere Schwester. Dann könnte ich ihre Kleider anziehen und mich noch schöner fühlen.« Beschwingt tanzte Adele ein paar Meter über den Bretterboden.
»Renate würde mir niemals ihre Kleider ausleihen, nicht mal die, die sie nicht mehr trägt. Die ist furchtbar pingelig! Sieh mal hier, die Bilderrahmen. Da können wir Fotos von unseren Lieblingsstars reinstecken.«
»Da kommen unsere eigenen Fotos rein. Wir sind die großen Stars«, widersprach Adele gespielt hochmütig.
Das überzeugte mich sofort. Wir sind die großen Stars. Wir kicherten und alberten noch den ganzen Nachmittag herum und die Rosenkranzgeschichte war längst vergeben und vergessen.
Gegen Abend brach Adele auf. »Morgen können wir richtig mit dem Spielen anfangen. Ich bringe ein paar Textheftchen mit.«
Zufrieden mit unserem Werk blickte ich noch mal in die Runde. »Die anderen werden staunen, wenn sie den Raum sehen.«
»Oh, nein, Lisa, das find ich blöd. Wir machen uns die ganze Arbeit und andere machen sich hier breit, weil es jetzt so schön hier ist. Es soll unsere Mansarde sein, ganz allein unsere! Keiner darf hier rein, nur wir.«
Vielleicht hatte Adele recht. Es war ohnehin nicht davon auszugehen, dass sich irgendjemand ausgerechnet für das düstere Dachzimmer interessieren würde. »Gut, die Mansarde gehört nur uns.«
»Wir schließen die Tür ab, und den Schlüssel legen wir … ähm … hierhin.« Adele schob den Schlüssel in eine Ritze unter den Fußleisten direkt vor der Tür. Dann hüpften wir munter die Stiege hinunter und freuten uns auf den nächsten Tag.

Kapitel 2

Am nächsten Nachmittag saß ich auf meinem Lieblingsplatz im Schatten des Kirschbaumes, zupfte die roten Johannisbeeren von ihren Stielen und ärgerte mich. Renate hatte es wieder mal geschafft, sich vor dieser Arbeit zu drücken. Immer fand sie neue Ausreden und es wollte mir nicht in den Kopf, warum meine Mutter sie nicht durchschaute. Zwei riesengroße Plastikschüsseln voll standen vor mir auf dem Holztisch und ich hatte nicht mal eine Handvoll davon abgerupft. Zu meinem Ärger blieb ständig der kleine Stiel an den Früchten hängen und ich musste sie einzeln aus der Schüssel herausnehmen und noch mal abzupfen. Meine Mutter war da sehr genau. Stiele in der Marmelade wurden nicht geduldet.
Ein Hoffnungsschimmer tat sich auf, als Adele plötzlich mit einem prall gefüllten Rucksack auf den Schultern am Gatter auftauchte. Zu zweit würden wir die Beeren im Handumdrehen fertig haben, malte ich mir aus, denn beim Geschichten erzählen und Herumalbern tat sich die Arbeit wie von selbst.
»Du kommst gerade richtig«, rief ich hocherfreut.
»Oh, ja!« Adele grinste und langte ungehemmt in die Schüssel mit den mühselig abgezupften Beeren.
»Hey, spinnst du? Weißt du, wie viel Arbeit das ist?«
Sie ignorierte meinen Einwand.
»Du wirst staunen, Lisa. Ich habe lauter tolle Sachen mitgebracht! Komm, lass uns nach oben gehen!«
»Jetzt? Ich kann jetzt nicht«, sagte ich gereizt.
»Wieso denn nicht?«
»Meine Mutter wartet auf die Johannisbeeren.«
»Das machen wir gleich zusammen. Dann geht es doch viel schneller.«
Es brauchte nicht viel Überredungskunst, um mich zu überzeugen. Vor allem fiel mir die Leerkassette ein, die ich Adele gestern mitgegeben hatte, damit sie mir ein paar meiner Favoriten aufnahm. Ich überließ die Johannisbeeren also Wind und Wetter, wir stapften hinauf in unsere Mansarde und packten die Mitbringsel aus: Einen altmodischen Damenhut mit Feder, einen Schnurrbart zum Ankleben, Hosenträger, bunte Tücher, Lippenstift und Puderdose, einen Fächer, eine blonde Perücke und ein paar Textheftchen. Dann war der Rucksack leer.
»Wo ist meine Kassette?«, fragte ich bestürzt.
»Bin noch nicht dazu gekommen.«
»Aber du hattest es versprochen.«
Adele klebte sich den Schnurbart an und legte die Hosenträger über die Schultern. »Geduld, Geduld, junges Fräulein«, sagte sie mit tiefer Stimme. »Ein alter Mann ist doch kein D-Zug.«
Obwohl ich enttäuscht war, brachte sie mich zum Lachen. Eine ganze Weile alberten wir noch mit den Requisiten herum, setzten die Perücke auf oder den Hut und malten uns die Lippen rot. Unser kleines Theater war fast perfekt, doch etwas Wesentliches fehlte noch. Wir gingen hinüber ins Wohnhaus, um meinen Kassettenrekorder zu holen. Prompt lief uns meine Mutter über den Weg, als wir durch den Flur huschten.
»Was machen die Johannisbeeren?« Misstrauisch beäugte sie uns.
»Sind fast fertig«, log ich und flitzte schnell die Treppe hinauf in mein Zimmer. Ich zog das Kabel des Kassettenrekorders und hob ihn von der Kommode, während Adele meine Kassetten durchstöberte.
»Heintje! Hörst du den wirklich?« Adele stellte sich in Pose und kreischte ein schrilles Aber heitschi, bum beitschi in ein imaginäres Mikrofon. Danach verfiel sie in albernes Gelächter.
Pikiert beobachtete ich sie dabei. »Man kann die Lieder toll mitsingen.«
»Die Kassette nehmen wir mit, das wird lustig. Ich geh noch schnell aufs Klo.« Adele verschwand.
Mit dem Rekorder in der einen und ein paar Musikkassetten in der anderen Hand wartete ich auf sie. Ich wartete und wartete. Gereizt stapfte ich schließlich auf den Flur hinaus. Die Tür zum Bad stand offen und die zu Renates Zimmer ebenfalls. Mit schwante nichts Gutes.
»Was machst du hier?«, fragte ich entsetzt.
In aller Seelenruhe durchforstete Adele Renates Kleiderschrank.
»Deine Schwester hat total schöne Klamotten. Guck mal, die Bluse hier und dazu der Rock. Oh Mann, zum Sterben schön.« Sie hielt sich die Sachen an und betrachtete sich im Spiegel, der an der Innenseite der Schranktür hing.
»Bist du verrückt! Renate lyncht mich, wenn sie das rauskriegt.«
»Komm, hab dich nicht so. Das merkt die schon nicht.«
»Und ob die das merkt. Sie merkt alles!«
»Spielverderber!« Frech streckte Adele mir die Zunge heraus.
Spielverderber war so ziemlich das Schlimmste, was man mir vorwerfen konnte. Nein, ein Spielverderber wollte ich nicht sein, also hielt ich mich zurück, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl. Adele nahm die Sachen vom Bügel, knüllte sie zusammen und stopfte sie unter ihr Shirt.
»Jetzt aber raus hier!«, sagte ich.
Bevor Adele die Schranktür schloss, griff sie sich flink noch zwei weitere Teile heraus. Genervt verzog ich den Mund und warf ihr einen missbilligenden Blick zu, als sie an mir vorbeistolzierte. Ich würde es ausbaden müssen, soviel stand fest.
Wir gingen wieder hinüber in unsere Mansarde. Adele kniete sich vor das Regal und sichtete die Reclam-Heftchen eins nach dem anderen.
Sie schien all die Stücke zu kennen und das erstaunte mich. »Hast du die alle gelesen?«
»Klar! Womit fangen wir an? Minna von Barnhelm
Der Titel klang ja ziemlich langweilig. Zum Theater spielen hatte ich außerdem weder Lust noch Zeit.
»Wilhelm Tell?«, fragte Adele.
»Hm«, sagte ich wenig begeistert. Das klang ja noch langweiliger.
»Mit irgendwas müssen wir aber anfangen. Hier: Ein Engel kommt nach Babylon.«
»Das hört sich doch ganz spaßig an.«
»Also Lisa! Es geht doch beim Theater nicht um Spaß!«
»Nein? Worum denn?«
»Na ja, also, vielleicht auch ein bisschen um Spaß, aber vor allem geht es darum, dass man was versteht, weißt du?«
»Natürlich will man was verstehen, wenn man ins Theater geht. Sonst ist es ja rausgeworfenes Geld«, sagte ich.
»Na, siehst du. Hier, kannst ja mal reingucken!« Adele warf mir das Heftchen zu.
»Ein Engel kommt nach Babylon«, las ich und schlug es auf. »Da spielen ja ganz viele Personen mit. Wie soll denn das gehen? Wir sind doch nur zu zweit.«
»Du bist aber auch ein Dummchen. Natürlich suchen wir uns ein paar Szenen raus, sonst wäre es auch viel zu lang. Naja, manchmal müssen wir natürlich auch die Rollen wechseln, schnell hinter den Vorhang, umziehen und ruck zuck wieder auf die Bühne. So geht das im Theater.«
Adele suchte weiter. »Jetzt hab ich’s. Wir spielen Romeo und Julia! Das kennt jeder.« Sie blätterte in dem Heft und entschied sich auffallend schnell für eine Szene. »Ich spiele die Julia. Also: Romeo ist mit Julia in ihrem Zimmer, und sie will nicht, dass er geht.«
Adele positionierte sich mitten im Raum und setzte eine Leidensmiene auf. »Willst du schon geh‘n?«, fragte sie und sah mich flehend dabei an.
Ich wunderte mich über die komische Frage und war schon drauf und dran, ‚nein‘ zu sagen, als sie weiterredete und ich merkte, dass es zum Text gehörte. Mit, wie ich fand, maßlos übertriebener Dramatik bot sie ihren Part weiter dar, ohne auch nur einmal ins Heft zu gucken.
»Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang, sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort, glaub, Lieber, mir, es war die Nachtigall. So, und dann du, Romeo!« Sie reichte mir das Heft.
Verdutzt nahm ich es entgegen. Ich sollte einen Mann spielen? Das kam mir seltsam vor.
»Mach schon. Hier: Die Lerche war’s …«
Mit einer Portion Widerwillen räusperte ich mich. »Na gut.«, sagte ich schließlich und begann, Romeos Text zu lesen. »Die Lerche war’s, die Tagverkünderin, nicht Philomele, sieh den neid’schen Streif, der dort im Ost der Frühe Wolken säumt.«
»Oh nein, so doch nicht, Lisa! Das muss viel lebendiger sein.«
Ich hatte ja selbst gemerkt, dass ich damit keinen Oscar gewinnen konnte. Aber es machte mir auch keinen Spaß. Ich wollte lieber tanzen. Nur weil Adele drängte, versuchte ich es noch einmal und verlieh den Worten mehr Ausdruck.
»Du leierst das einfach so runter! Gib dir doch mal richtig Mühe!«
»Das ist aber auch ein komischer Text. Ich verstehe den gar nicht. Wer ist Philomele, und was bedeutet der neid’sche Streif
»Ist doch egal, das muss du nicht verstehen, Hauptsache, du spielst es gut.«
»Aber ich muss doch wissen, was ich da sage, sonst weiß ich gar nicht, wie ich es betonen muss«, protestierte ich lautstark.
»Also ehrlich, Lisa, du machst aber auch alles kompliziert.«
»Du hast gut reden, du kennst die Texte schon! Bestimmt hast du diese Szene schon x-mal geübt!«
Ich war sauer. »Wir können doch auch morgen damit weitermachen. Bis dahin habe ich den Text gelesen. Und jetzt lass uns die Johannisbeeren fertigmachen, sonst kriege ich Ärger.«
»Ach, Mensch! Ich hatte mich so darauf gefreut.« Adele trat mit dem Fuß gegen den Stapel Heftchen und ließ sich beleidigt zu Boden fallen.
Ich verschränkte die Arme, so wie Renate es immer tat, wenn sie partout ihren Willen durchsetzen wollte. Und siehe da, es zeigte Wirkung.
Adele sprang auf. »Na gut. Aber nur, wenn wir jetzt noch singen. Du willst doch immer singen. Und morgen darf ich ganz allein bestimmen, was wir machen.«
Die Idee war zu verlockend, als dass ich ihr hätte widerstehen können. Meine schlechte Laune verschwand augenblicklich, ich legte eine Kassette ein und drehte die Lautstärke auf. Wir tanzten über den Bretterboden, sangen die Songs mit und imitierten mit Hingabe unsere Vorbilder.
Erst gegen Abend, als Adele sich verabschiedete, fielen mir die Johannisbeeren wieder ein. In Windeseile flitzte ich hinunter zu meinem Platz unterm Kirschbaum, doch der Tisch war leer. Die Johannisbeeren waren verschwunden. Mit einem flauen Gefühl lief ich hinüber ins Wohnhaus. In der Küche hatte sich bereits die ganze Familie zum Abendessen eingefunden.
»Du bist mir ja eine schöne Hilfe!«, empfing meine Mutter mich mit vorwurfsvollem Blick. »Lässt einfach die Johannisbeeren draußen stehen! Es ist ein Glück, dass Thomas sie zufällig noch vor dem Gewitter reingeholt hat, sonst hätte der Wind sie alle vom Tisch gefegt.«
»Oh, tut mir leid, die hatte ich ganz vergessen«, gestand ich betreten ein.
»Um ein Haar hätten wir das ganze Jahr keine Marmelade gehabt.«
»Aber wir haben doch noch die Erdbeermarmelade«, verteidigte ich mich.
»Ich glaube, diese Adele ist kein guter Umgang für dich!«
»Eine dreiste Göre ist sie«, meckerte Renate.
»Du kennst sie doch gar nicht!«, fauchte ich sie an.
»Du glaubst wohl, ich hätte nicht gemerkt, dass ihr an meinem Kleiderschrank wart?«
»Stimmt doch gar nicht!«
»Ach, nee! Und wer war das hier? Die Heinzelmännchen vielleicht?« Vor Wut schon ganz rot angelaufen griff Renate nach der Tüte, die sie neben ihrem Stuhl verstaut hatte, und leerte den Inhalt demonstrativ auf dem Küchentisch mitten zwischen Brotkorb und Käseteller. »Guckt euch das an! Die nagelneue Bluse, der Rock, alles total zerknittert und verdreckt! Das geht doch nie wieder raus!«
Meine Mutter schlug die Hand vor den Mund. »Mein Gott, Lisa! Was habt ihr nur mit den Sachen gemacht?«
Renate machte mal wieder aus einer Mücke einen Elefanten, dabei hatte ich die Sachen in ihren Schrank zurück gehängt, gleich nachdem wir sie nicht mehr gebraucht hatten. »Wir haben Theater gespielt. Sonst nichts. Das ist ja nicht verboten.«
»Theater gespielt! Ha! Die dumme Pute hält sich wohl für eine große Schauspielerin, was?«
»Renate!«, mahnte meine Mutter.
»Du hast doch selbst gesagt, dass sie ganz schön überheblich ist.«
»Ihr seid so gemein! Sie ist meine beste Freundin!« Ich warf mich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme.
»Lisa hat recht, das ist gemein«, sagte Heinz. »Lasst ihr doch die Freundin!«
»Niemand will ihr die Freundin nehmen. Ich habe auch nicht gesagt, dass Adele überheblich ist, sondern dass sie für ihr Alter ganz schön selbstbewusst ist.«
»Altklug, hast du gesagt, Mama, nicht selbstbewusst«, korrigierte Renate.
»Ruhe jetzt!«, mahnte mein Vater. »Und nimm die Kleider vom Tisch! Wir essen!«
Wütend pfefferte Renate die Sachen zu Boden. »Das zahlst du mir zurück!«, zischte sie mir entgegen.
Für einen Moment war es still am Tisch.
»Und du, Heinz? Was macht die Bank?«, fragte mein Vater.
Stolz und mit Begeisterung erzählte Heinz von seiner Arbeit, und nach und nach wurde deutlich, dass er sich von einer Zukunft in der Gärtnerei, so wie unsere Eltern sie sich für ihn vorgestellt hatten, bereits ziemlich entfernt hatte.

»Ich habe gestern Abend noch bis elf Uhr gelernt. Ich kann den Text von Romeo sogar auswendig, die ganze fünfte Szene.« Ich war unglaublich stolz auf mich, als ich am nächsten Nachmittag mit Adele die Stiege zur Mansarde hinaufstieg. Thomas, der von früh bis spät seine Nase in Bücher steckte, hatte mir die unverständlichen Ausdrücke erklärt, sodass ich jetzt wusste, worauf es ankam. Ich hatte meinen Part vor dem Spiegel einstudiert, hatte mit jedem Mal mehr Gefallen daran gefunden und konnte nun gut gewappnet in die neue Probe ziehen. Gespannt auf Adeles verblüfften Blick klebte ich mir den Schnurbart an, straffte die Schultern und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich bin bereit.«
»Wofür?«
»Für die Balkonszene.«
»Ach so, die. Also, meine Mutter sagt, das Stück ist für Anfänger viel zu schwierig. Ich hatte gar nicht bedacht, dass du ja Anfänger bist.«
»Aber wenn man den Text einmal verstanden hat, ist er gar nicht mehr schwer.«
»Meine Mutter kennt sich aus, weißt du, und ich habe keine Lust, wochenlang umsonst zu proben.«
»Wieso denn umsonst?«
»Na, weil wir dann üben und üben, und am Ende können wir es doch nicht aufführen, weil du einfach noch zu unerfahren bist.«
Augenblicklich verschlug es mir die Sprache. Doch bevor ich meinem Ärger Luft machen konnte, redete Adele munter weiter, als wäre nichts gewesen.
»Wir spielen jetzt doch Ein Engel kommt nach Babylon. Das Heft habe ich sogar zwei Mal, dann hat jeder sein eigenes. Das ist doch praktisch.« Sie kramte in ihrem Rucksack, zog ein Heftchen raus und schlug es auf.
In mir kochte es wie in einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
»Komm, lass uns nicht die Zeit verplempern.« Sie reichte mir das Heftchen, doch ich schlug es ihr aus der Hand.
»Alles willst du bestimmen! Das finde ich richtig gemein!« Wütend lief ich hinaus, flitzte die Treppe hinunter, schnappte die Harke aus dem Lagerraum und machte mich auf ins Gemüsebeet. Bei Gartenarbeit konnte ich meine Wut am besten abreagieren.
Kurz darauf stand Adele da. »Gestern haben wir nicht Theater gespielt, weil du zuerst den Text lesen wolltest. Das hast du wohl vergessen! Wir haben gesungen, weil du lieber singen wolltest. Und wir haben gesagt, dass ich dafür heute bestimmen darf.«
Ich reagierte nicht, ließ sie einfach stehen und harkte mit zackigen Bewegungen den Weg zwischen den Gemüsebeeten.
»Du bist die Gemeine und nicht ich«, fuhr sie fort. »Du hältst dich nicht an unsere Verabredung. Ich habe jetzt extra ein Stück ausgesucht, das für uns beide passende Rollen hat. Du sollst sogar die weibliche Hauptrolle spielen. Aber wenn du nicht willst, kann ich auch zu Ute fahren!« Adele wandte sich zum Gehen um.
»Nein, warte!« Ich ließ die Harke fallen und lief ihr nach. »Ja, es stimmt, du hast ja recht, gestern haben wir gesungen, das hatte ich ganz vergessen.«
»Ist nicht so schlimm, ich habe auch schon mal was vergessen. Das Stück gefällt dir bestimmt. Es ist lustig.«
Ich zögerte noch einen Moment. »Und ich spiele wirklich die weibliche Hauptrolle.«
»Na klar.«
Wieder versöhnt stiegen wir also hinauf in unser Laientheater.
»Du bist das Mädchen Kurrubi und ich bin der Engel, der dich auf die Erde bringt. Ich soll dich dem Ärmsten aller Menschen übergeben«, erklärte Adele und deklamierte ihren Text höchst überzeugend: »Da du, mein Kind, erst vor wenigen Augenblicken auf eine höchst erstaunliche Weise von meinem Herrn erschaffen worden bist, so vernimm denn, dass ich, der ich als Bettler verkleidet neben dir schreite, ein Engel bin, dass diese zähe und störrische Materie, auf der wir uns hier bewegen, die Erde ist – wenn ich mich nicht allzu sehr in der Richtung geirrt haben sollte -, und dass diese weißen Blöcke die Häuser der Stadt Babylon sind.«
Ich verfolgte den Text im Heft und war entschlossen, mein ganzes schauspielerisches Können in meine Worte zu legen, so wie gestern vor dem Spiegel.
»Ja, mein Engel«, rief ich voller Enthusiasmus.
Adele zog die Stirn kraus. »Lisa, du bist ein junges Mädchen und kommst zum ersten Mal auf die Erde, alles ist neu für dich und du weißt nicht, was dich erwartet. Das Einzige, was dir vertraut ist, bin ich, der Engel, verstehst du? Also noch mal, etwas verschüchtert, bitte.«
»Ja, mein Engel«, sagte ich diesmal leise.
»Schon besser.« Adele zog eine imaginäre Landkarte hervor und studierte sie mit zusammengekniffenen Augen.
»Die breite Masse, die an uns vorbeifließt, ist der Euphrat. Er scheint aus einer Unmenge von angesammeltem Tau zu bestehen.«
»Ja, mein Engel«, las ich meinen Text ab.
»Die krumme und helle Figur über uns – ich bitte dich, den Kopf ein wenig zu heben – ist der Mond, und die unermessliche Wolke hinter uns, milchig in ihrer Majestät, der Andromedanebel, den du kennst, da wir von ihm kommen. Es stimmt, es steht alles auf der Landkarte«, spielte Adele weiter.
»Ja, mein Engel«, las ich nun zum dritten Mal und verzog den Mund. Das sollte die weibliche Hauptrolle sein? Ja, mein Engel und weiter nichts? Während Adele weiter den wortreichen Part des Engels spielte, ließ ich meinen Blick über Kurrubis weiteren Textverlauf gleiten. Dem Ja, mein Engel folgten einige dürftige Halbsätze: Ich erinnere mich, mein Engel, oder: Ich habe dir zu gehorchen, mein Engel, und wieder: Ja, mein Engel. Blitzartig ging mir ein Licht auf und ich schnaubte vor Wut.
»Das hast du dir ja wieder toll ausgedacht! Ich spiele das kleine dumme Mädchen, das kaum ein Wort rauskriegt, und du hast den ganzen Text!«
»Ja, aber das ist doch nur am Anfang so. Dann verschwindet der Engel und Kurrubi bleibt allein zurück auf der Erde.«
»Ach so?« Stichprobenartig blätterte ich das Heft durch. Soweit ich sehen konnte, tauchte der Engel tatsächlich nur am Anfang und am Ende des Stückes auf. Diese Tatsache besänftigte mich ein wenig, dann aber tat sich mir eine Frage auf. »Wenn der Engel weg ist, wie geht es weiter? Was spielst du dann?«
»Dann hören wir auf, ist doch klar. Wir suchen uns eine andere Szene aus einem anderen Stück. Oder willst du etwa alleine weiterspielen?«
»Nein!«, sagte ich matt. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass hier etwas vor sich ging, dessen Logik sich mir nicht erschloss. »Natürlich will ich nicht allein weiterspielen, aber …«
»Na, siehst du!«, sagte Adele und fuhr unbeirrt mit ihrem Text fort.