Eine Handvoll Träume – Leseprobe

Kapitel 1

Jan hatte keine Ahnung, wie er in diesen Schlamassel geraten konnte.
Vor ihm stand ein Fiat-Ducato in Rentnerbeige mit braunen Querstreifen, Baujahr dreiundachtzig, neunzig PS, neben ihm Pia, die Frau, die er seit nicht mal vierundzwanzig Stunden kannte und mit der er dennoch die letzte Nacht verbracht hatte. Verflixt, wie konnte ihm das passieren? Und wie hatte sie es fertiggebracht, ihn zu einer Toskana-Rundreise zu bewegen? Mit diesem urzeitlichen Gefährt! Er war nach Italien gekommen, um Abstand zu gewinnen, um einen klaren Kopf zu bekommen, um allein zu sein. Und jetzt das! Zwei Wochen mit einer quasi Unbekannten auf engstem Raum.
»Du fährst!« Mit ihrem bezaubernden Lächeln hielt Pia ihm den Wagenschlüssel hin.
Jan kapitulierte und öffnete seine Hand. Keck ließ sie den Schlüssel hineinfallen. Er hätte auf Patrick hören sollen, Patrick hatte ihn gewarnt. Jetzt war es für einen Rückzieher zu spät, jetzt würde er alle vor den Kopf stoßen. Warum hatte er sich gestern Abend nicht vom Acker gemacht, so wie er es geplant hatte? Es war doch glasklar abzusehen gewesen, worauf das Ganze hinauslaufen würde. Allerdings, so glasklar auch wieder nicht, denn nicht nur der Wein, auch die gute Stimmung am Tisch, die nette italienische Familie, die Idylle auf dem toskanischen Landgut, und vor allem Pias im wahrsten Sinn des Wortes überwältigende Art … all das hatte ihm ordentlich die Sinne vernebelt.
Da stand er jetzt mit seinem Talent, nicht Nein sagen zu können, vor diesem Fiat Ducato in Rentnerbeige, der für die kommenden zwei Wochen sein Zuhause sein sollte. So konnte es gehen, wenn man nicht auf seinen besten Freund hörte.
Ein dumpfer Schlag traf ihn auf den Rücken.
»Na, was sagst du? Ist das ’ne flotte Kiste?«
Alessandro. Auf schnoddrige Weise liebenswürdig. Diese Beschreibung war Jan gestern Abend für ihn in den Sinn gekommen. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Menschen, die ihm begegneten, in einem knappen Satz zu charakterisieren. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Es war ein Tick von ihm, ein Spiel, bei dem er testete, ob er mit seiner spontanen Einschätzung richtig lag. Ein Ergebnis bekam er natürlich nur bei näherem Kennenlernen. Doch auffallend oft, oder fast immer, lag er richtig. Und das war das Schöne an dem Spiel.
Bevor er antworten konnte, schaltete Pia sich ein. »Das ist ’ne super flotte Kiste!«, jauchzte sie begeistert.
Jan suchte nach einem Grund, das Angebot auszuschlagen. »Aber das kann ich doch nicht annehmen, ich meine, ihr kennt mich doch gar nicht, und außerdem …«
Alessandro ging mit dem Luftdruckmesser am linken Vorderreifen in die Knie und schraubte die Ventilkappe ab. »Pias Freunde sind auch unsere Freunde.«
Aber ich bin nicht Pias Freund, hätte Jan am liebsten gesagt. »Und du bist sicher, dass niemand den Wagen vermissen wird?«
Alessandro erhob sich und ging zum Hinterreifen. »Ach was! Mein Bruder will die Karre sowieso verkaufen, er hat nur noch keinen Dummen gefunden.«
Pia schob die Seitentür des Wagens auf und warf ihren Rucksack hinein. Bevor sie einsteigen konnte, drängelten sich Lorenzo und Giulia, Alessandros Kinder, an ihr vorbei, stürmten den Fiat Ducato und hüpften kreischend auf den Sitzbänken herum.
»Wow! Jan, das musst du dir angucken!«, rief Pia.
Misstrauisch lugte Jan durch die Tür und stieg dann hinauf. Wie zu erwarten war, entsprach die Einrichtung dem rustikalen äußeren Design des Wagens. Immerhin gab es eine separate Dusche, einen gut ausgestatteten Kochbereich, sogar einen Fernseher und nach Alessandros Aussage unglaubliche fünf Schlafplätze, wo immer sich die versteckten.
Pia durchstöberte nacheinander die Einbaufächer und begutachtete zusammen mit den Kindern die Utensilien, die sie darin entdeckten: Geschirr und Besteck, Pfanne, Tischdecken, Servietten, Federballschläger, Spielkarten, Sonnenhüte, einfach alles, was man für eine Tour durch die wundervolle Toskana benötigte.
»Ist das der Hammer?«, rief sie zum dritten Mal. »Alessandro, warum habt ihr den Wagen so lange vor mir versteckt?«
Trotz des leicht muffigen Geruchs war Jan doch angenehm überrascht von dem Innenleben des Wagens. Er setzte sich ans Steuer, kurbelte die Scheibe runter, stellte Sitz und Rückspiegel ein und probierte die knarzenden Gänge durch. Und dann spielte sich eine Szene in seinem Kopf ab: Er auf einer staubigen Piste am Steuer dieses Schätzchens, mit Hut und Sonnenbrille und Dreitagebart, auf dem Beifahrersitz die aufgeschlagene Straßenkarte von der Sierra Nevada, in der Ferne eine Bergkette … und plötzlich betrachtete er das Gefährt von einer anderen Seite. So ein eigenes Wohnmobil und alles, was man zum Leben brauchte, immer dabei zu haben, das war ein reizvoller Gedanke.
Lorenzo quetschte sich auf seinen Schoß und übernahm das Ruder. Mit brummenden Geräuschen ahmte er einen Motor nach und drückte wiederholt die Hupe.
»Der Luftdruck ist in Ordnung!«, rief Alessandro von draußen.
Jan setzte Lorenzo ab, stieg aus und ging um den Wagen herum zu Alessandro.
»Wasser hab ich aufgefüllt, aber tanken müsst ihr noch. Ist nicht mehr viel drin. In Fiesole gibt es eine Tankstelle.«
»Ja, okay, kein Problem«, sagte Jan. »Sag mal, du meinst, dein Bruder will den Wagen loswerden?«
»Willst du ihn kaufen?«
»Käme auf den Preis an.«
»Mach das am besten mit Dario klar, wenn ihr zurückkommt. Ich denke, da werdet ihr euch einigen.«
Jan war angetan von der Idee. Jetzt hatte er sogar noch zwei Wochen lang Zeit, den Wagen auf seine Fahrtauglichkeit zu testen, bevor er sich endgültig entschied. Doch im Grunde hatte er sich schon entschieden. Er musste ein bisschen was investieren, in optischer und technischer Hinsicht, aber es wäre ein interessantes Projekt.
Mit einem Stapel Wäsche in der einen, und einem Korb in der anderen Hand kam Greta auf sie zu und übergab Pia die Sachen. »Hier! Was zu essen, ein paar Handtücher und Bettwäsche.«
Greta. Fürsorglich, lebensfroh, durchsetzungsstark. Das waren die Attribute, die Jan Pias Cousine zuschrieb. Sie und Alessandro hatten ihr Landgut vor einigen Jahren zu einem Agriturismo, der italienischen Variante von Ferien auf dem Bauernhof, umfunktioniert, und vermieteten nun Apartments an Touristen, die sie mit selbst hergestellten Produkten wie Käse, Wein,  Olivenöl und ihrem Gemüse vom Feld bewirteten.
»Greta, du bist ein Schatz!« Pia nahm die Sachen entgegen und begann sofort, mit Giulias Hilfe die Lebensmittel in die Schränke zu räumen. Jan beobachtete sie durch die Seitentür und musste lächeln. Sie hatte einen guten Draht zu den Kindern, das hatte er gestern schon bemerkt. Giulia und Lorenzo waren ganz vernarrt in ihre Tante.
Pia. Frech, überdreht, betörend. Das war Jans Eindruck von der Frau gewesen, die ihn nur einen Tag zuvor auf der Piazza della Signoria angesprochen hatte.

Kapitel 2

Auf der Suche nach Michelangelos berühmter David-Skulptur hatte Jan die Orientierung ein wenig verloren. Es war wenige Tage vor Pfingsten, er war in Florenz, stand irgendwo mitten in der Altstadt zwischen Scharen von Touristen, blickte immer wieder auf und suchte nach Übereinstimmungen mit dem dürftigen Stadtplan in seinem Reiseführer.
»Hey, hast du mal Feuer?«
Er blickte von dem Plan auf. Eine junge Frau stand vor ihm und hielt ihm ihre Zigarette vors Gesicht. Er wunderte sich kurz, dass sie ihn auf Deutsch ansprach, fragte aber nicht weiter nach. Das Letzte, was er heute brauchte, war ein Smalltalk. Er wollte allein sein.
»Tut mir leid, ich rauche nicht.« Demonstrativ wandte er sich wieder seinem Plan zu.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sie ihren Hals reckte und ihm auf die Finger schaute. »Hey, es gibt echt noch Leute, die mit einem Reiseführer herumlaufen?
»Ich mag die Dinger.« Jan wandte sich etwas ab. Ihre unverblümte Neugier störte ihn.
»Wenn ich irgendwie helfen kann …«
»Danke, ich komme zurecht.«
Die Frau zuckte mit den Schultern und schlurfte weiter.
Jan gab sich einen Ruck. Warum war er so abweisend? Es sprach nichts dagegen, sich helfen zu lassen. Das jedenfalls dachte er in diesem Moment. Später wusste er, dass es genau der Moment war, der sein Leben auf den Kopf stellen würde und dass er hier noch alles hätte verhindern können.
»Ich suche die Piazza della Signoria!«
Mit breitem Grinsen drehte sie sich zu ihm um. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie genau das erwartet, dass sie es sogar gewusst hatte.
»Du meinst es ernst, ja?« Mit schelmischem Blick sah sie ihn über ihre Sonnenbrille hinweg an.
»Ja natürlich. Es muss ganz in der Nähe sein.«
Sie ging die wenigen Schritte auf ihn zu und drehte mit verspielter Geste den Reiseführer in seiner Hand in ihre Richtung. »Na, dann lass uns doch mal gucken.«
Sie macht sich über mich lustig, dachte Jan.
»Also, hier ist die Piazza della Signoria, okay?«
»Ja ja, das hab ich schon gesehen. Aber wo bin ich?« Jan ärgerte sich. Offenbar hielt sie ihn für dumm.
»Du?« Sie hob ihren Zeigefinger hoch in die Luft und ließ ihn mit ein paar Kapriolen auf einen Punkt in der Karte fliegen, und zwar genau an den Rand der Piazza. »Du bist hier!«
Jetzt war es Jan, der lachte. Er fühlte sich komplett veräppelt. Diese Frau hatte etwas an sich, das ihn provozierte. »Quatsch!«
»Du glaubst mir nicht?« Sie hakte sich bei ihm ein und zog ihn nur wenige Schritte weiter. Und tatsächlich tat sich jetzt ein großer Platz vor ihm auf, der mit Menschen überfüllt war.
Jan ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Auf der gegenüberliegenden Seite erkannte er den Palazzo Vecchio, vor dem Michelangelos David posierte. Genau dort hatte er hingewollt. Verlegen grinste er. »Oh!«
»Den Reiseführer kannst du wegpacken. Den brauchst du hier nicht.«
»Und warum nicht?«
»Wenn man nicht gerade ein Brett vorm Kopf hat, kann man die Touristenattraktionen gar nicht verfehlen.«
War er damit gemeint, mit dem Brett vorm Kopf? »Nein, nein. Die Sonne hat mich geblendet und da hab ich …«
Ihr herzerfrischendes Lachen ließ ihn innehalten.
»Also gut, ich korrigiere mich: Wenn man nicht gerade ein Brett vorm Kopf hat oder von der Sonne geblendet wird«, sie grinste schelmisch, »oder beides, dann kann man die Touristenattraktionen nicht verfehlen. Aber wie auch immer. Die wirklich schönen Ecken stehen in keinem Reiseführer.« Sie hob die Hand, in der sie die Zigarette hielt, und blickte sich um.
Sie sucht nach jemandem, den sie um Feuer bitten kann, dachte Jan. Er musterte diese zierliche Person, die es geschafft hatte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl ihm nicht nach Gesellschaft zumute war. Sie war eine Deutsche, schien sich aber dennoch bestens hier auszukennen. Mit ihrem kurzen Haarschnitt und der viel zu großen Sonnenbrille wirkte sie frech und selbstbewusst. Er schätzte sie auf Ende zwanzig, vielleicht dreißig, also etwa in seinem Alter. »Du kennst dich hier aus?« Aus unerklärlichem Grund wollte er nicht, dass sie sich einem potenziellen Feuerspender zuwenden und sich von ihm abwenden konnte.
»Ja, ich bin oft hier. Meine Cousine hat ein Landgut in der Nähe.«
»Oh, das ist praktisch.«
»Ich will in die Markthalle. Wenn du willst, komm mit. Die muss man unbedingt gesehen haben.«
Jan zögerte. Er fühlte sich ein wenig überrumpelt. Eigentlich hatte er allein sein wollen. »Das ist nett, aber ich will mir den David ansehen.«
»Auch gut. Ich hab’s nicht eilig.«
Jan runzelte die Stirn. Sie hatte offenbar nicht die Absicht, sich abschütteln zu lassen. »Na gut. Ich bin übrigens Jan.«
»Freut mich. Ich bin Pia.«
Der Name passt zu ihr, dachte er.
Wenige Meter vor der Skulptur blieben sie zwischen den zahlreichen Bewunderern stehen. Jan zog sein Smartphone aus der Hosentasche und hielt es in die Höhe, um über die Köpfe der Touristen hinweg ein paar Fotos von dem berühmten David zu schießen. Einen Moment lang betrachtete er die Statue beeindruckt, während Pia gelangweilt mal hierhin, mal dorthin schaute und den Mund verzog.
»Was findet nur alle Welt an ihm?«
»Wie? Soll das heißen, er gefällt dir nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ja, doch, ist irgendwie ganz nett, der Typ. Aber diese Frisur!«
»Hallo? Ich hab dafür Modell gestanden«, entwich es Jan. Er fuhr sich mit der Hand durch seine Locken, die durchaus mit denen von David vergleichbar waren.
Diese spontane Bemerkung war der zweite Fehler gewesen, wie er später erkannte. Patrick, sein bester Freund, pflegte ihn zu warnen: Willst du dir eine Frau vom Leib halten, dann sei nicht witzig. Frauen lieben humorvolle Männer. Und Pia bestätigte das prompt.
»Hey, ich mag Männer mit Humor.« Sie lachte ein helles klares Lachen.
Jan musste zugeben, dass ihr Lachen ihm gefiel. Es wirkte kein bisschen gekünstelt.
»Das war kein Witz«, sagte er. Damit brachte er sie noch mehr zum Lachen.
»Nee, schon klar. Aber weißt du was? Dieser David da oben ist ja nur aus Stein und noch nicht mal echt. Es ist nur eine Kopie. Lebendige Originale sind mir wesentlich lieber.« Mit neckischen Blick musterte sie ihn.
Sie baggert mich an, dachte er. Er war nicht in der Stimmung, sich anbaggern zu lassen. Er steckte in einer Krise und war hier, um den Kopf frei zu kriegen. »Wolltest du nicht in die Markthalle?«
»Du kommst also mit? Gute Entscheidung.«
Davon hatte Jan zwar nichts gesagt, aber ihm fiel auch nichts ein, was dagegen sprach. Außer, dass er eigentlich allein sein wollte.