Das sonnengelbe Cabrio – Leseprobe

Kapitel 1

Hamburg 2001

Es war der Vormittag des achtzehnten April, als Jessy die Nachricht erhielt.
Die japanischen Kirschbäume, die in den Siebzigern die ganze Straße entlang gepflanzt worden waren, standen in voller Blüte, sodass man mehr als einen Kilometer weit unter einem Dach von rosa Blüten her spazieren konnte. Dieses wenige Tage währende Schauspiel war so beeindruckend, dass es jedes Jahr mehr Besucher auf den Plan rief und die Wohnstraße nachmittags einer Promenade auf der Bundesgartenschau glich. Um diese Uhrzeit allerdings hielten sich die Besucherzahlen noch in Grenzen.
Ratlos stand Jessy mit dem Goldkugelkaktus, auch unter dem Namen Schwiegermuttersitz bekannt, vor dem bis unters Dach beladenen VW-Bus und wusste nicht so recht, wohin damit.
»Muss der unbedingt mit?«, rief sie Mike zu, der die Gunst der frühen Stunde nutzte und mit fast kindlicher Begeisterung die Blütenpracht mit seiner Kamera einfing. Es würde das letzte Mal sein, dass er Gelegenheit dazu hatte.
»Den hab ich dir geschenkt. Natürlich kommt der mit.«
»Aber wir haben keinen Platz mehr.«
Mike kam zum Wagen, verstaute seine Kamera, warf einen Blick durch die Seitentür und runzelte nachdenklich die Stirn. »Gib her.«
Vorsichtig reichte Jessy ihm das Ungetüm mit den mörderischen Stacheln, während sie sich ärgerte, dass sie Mike überhaupt gefragt hatte. Sie wusste doch, dass er niemals aufgab, bevor er nicht eine Lösung gefunden hatte. Und er fand immer eine Lösung. Dabei wäre es die perfekte Gelegenheit gewesen, den Kaktus endlich loszuwerden. Sie hätte ihn zu den anderen eigenwilligen Kreaturen auf die Fensterbank im Treppenhaus stellen sollen. Mike hätte es nicht gemerkt. Doch, er hätte es gemerkt. Aber frühestens in München, und dann wäre es zu spät gewesen. So ein Pech!
Auf wundersame Weise fischte er zwischen all den Brettern, Kleinmöbeln und Kartons ein Handtuch heraus, wickelte behutsam den Kaktus darin ein, fand noch ein geschütztes Plätzchen unter dem Küchenstuhl und küsste Jessy auf die Wange.
»Danke«, sagte er und grinste schief.
»Wofür?«
»Dass du ihn nicht aus Versehen auf der Fensterbank im Treppenhaus vergessen hast.«
Er hatte sie durchschaut. »Ja, zugegeben, ich hatte den Gedanken. Ich dachte, dass er sich unter seinesgleichen wohler fühlt als so einsam auf meinem Schreibtisch.«
»Aber dann hast du es doch nicht übers Herz gebracht, ein mit Liebe ausgewähltes Geschenk von mir zurückzulassen.«
»Tja, so bin ich eben.«
Er legte seinen Arm um ihre Schulter, atmete tief durch und ließ seinen Blick nach oben an dem mehrgeschossigen Altbau hochwandern, der zwei Jahre lang ihr Zuhause gewesen war. »War ’ne schöne Zeit hier.«
»Ja, das war es«, bestätigte Jessy mit einem Hauch Wehmut. »Meine Mutter würde sagen, jetzt geht der Ernst des Lebens los.«
»Und du? Was sagst du?«
»Ich sage, jetzt steht uns die ganze Welt offen.«
Mike nickte. »Ja, stimmt. Kein Job, kein Geld, kein Dach über dem Kopf … irgendwie ist alles offen.«
Jessy boxte ihn auf den Oberarm. »Hey, wo bleibt der Abenteurer in dir?« Sie war in Bestlaune und die ließ sie sich heute nicht verderben. Es lief doch alles prima. Sie hatte gerade ihr Architekturstudium und Mike sein Referendariat beendet und Isabella hatte ihnen für heute Abend einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung in Haidhausen besorgt, einem angesagten Stadtteil von München, der direkt an die Altstadt grenzt.
»Sollten wir die Wohnung aus irgendeinem Grund nicht bekommen, dann können wir erstmal bei Isa und Stefan unterkommen. Wir müssen also nicht unter der Isarbrücke campen.« Jessy grinste Mike breit an. »Aber wir kriegen die Wohnung, mein Schatz! Ich hab ein richtig gutes Gefühl. Ich werfe schnell noch den Schlüssel in den Kasten, dann können wir starten.« Sie küsste ihn flüchtig, marschierte mit schwungvollen Schritten zum Hauseingang und warf wie vereinbart den Wohnungsschlüssel in den Briefkasten der Hausmeisterin.
Mike schloss derweil die Seitentür und setzte sich hinters Steuer, Jessy stieg auf der Beifahrerseite ein. Es ging los. Endlich ging es los! Wie lange hatte sie auf den Moment gewartet. »München, wir kommen!«, stieß sie jubelnd aus und stellte den CD-Player an, während Mike den VW-Bus aus der Parklücke manövrierte.
»Hey, hörst du das? Ich glaube, dein Handy klingelt«, sagte er.
Jessy stellte die Musik leiser, kramte das Handy aus ihrer Handtasche und ging ran.
»Ja?«
»Jessy?«
Es war ihre Mutter. Und sie klang seltsam bedrückt. Jessy spürte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie stellte die Musik ganz ab und bedeutete Mike, rechts ranzufahren. »Mama? Was ist?«
»Jessy?«, kam es nochmal tränenerstickt vom anderen Ende der Leitung.
Panik stieg in Jessy hoch, sie richtete sich auf. »Mama, was ist denn?«
»Jessy – Peter hatte einen Unfall.«

Kapitel 2

Lübeck 1985

»Oh nein! Ich habe meine Knieschoner zu Hause vergessen.« Jessy saß vor dem Elternhaus ihrer Cousine auf der Treppe und hatte gerade ihre Rollschuhe angeschnallt, als sie es bemerkte. Sie blickte auf zu Isa, die fix und fertig vor ihr stand und ihre Hände in die Hüften stemmte, so wie sie es immer machte, wenn Jessy mit irgendwas nicht so schnell war. Das war ganz schön unfair, denn Isa war ein Jahr älter und hatte schon viel mehr Übung.
»Du bist so vergesslich wie deine Mama«, sagte Isa erheitert.
»Blödsinn!«, widersprach Jessy vehement, obwohl sie wusste, dass Isa nicht ganz Unrecht hatte, jedenfalls, was die Vergesslichkeit ihrer Mutter anging. Die war in letzter Zeit nämlich allen aufgefallen, den Großeltern, Tante Betty, Onkel Carlo und eben auch Isa. Wenn Annette Westhusen einkaufen ging, fehlte am Ende immer irgendwas, und zwar meistens das Wichtigste. Wo sind die Eier für die Pfannkuchen?, fragte ihre Oma dann zum Beispiel, während sie den Korb mit den Einkäufen auspackte und keine Eier darin finden konnte. Oh! Sind die gar nicht da? Na sowas!, sagte Annette belustigt über ihre eigene Schusseligkeit. Dann warf sie Jessy ihren Dackelblick zu und sagte flehentlich: Ist ja nur ein Katzensprung. Und weil sie wusste, dass ihre Tochter Tante Betty ungern um Lebensmittel anbettelte, strich sie ihr noch liebevoll übers Haar. Bist mein kleiner Schatz. Da konnte Jessy schlecht sagen, dass sie doch selbst gehen sollte, weil sie es schließlich war, die immer alles vergaß.
»Papa sagt, sie hat wohl was anderes im Kopf«, sagte Isa.
Jessy stellte sich den Kopf ihrer Mutter vollgestopft mit Stroh vor, was sie ziemlich ärgerte. »Was soll sie denn im Kopf haben?«
Isa zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Mama sagt jedenfalls, sie ist nicht vergesslich, sondern abgelenkt.«
Tante Betty und Onkel Carlo konnten das überhaupt nicht beurteilen, fand Jessy. Vermutlich machte ihre Mutter zu viele Überstunden und dann war sie eben müde. Das ging doch Tante Betty  auch so, wenn sie Nachtschicht im Krankenhaus hatte.
Isa streckte die Arme seitlich aus und übte kleine Runden auf ihren Rollschuhen. »Komm, hol endlich deine Knieschoner. Ich warte hier.«
Jessy stand von der Treppe auf. »Bin gleich zurück. Ist ja nur ein Katzensprung.«
Isa hielt mit ihren Übungen inne und blickte mit skeptischer Miene die Häuserreihe entlang bis zum Haus der Westhusens, das ein Stück entfernt auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse stand. »Glaubst du wirklich, dass eine Katze so weit springen kann?«
»Hm«, sagte Jessy. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Mit zusammengekniffenen Augen nahm sie die Strecke ins Visier. »Was schätzt du, wieviel Meter das sind?«
Isa zog die Stirn kraus und überlegte. »Mehr als hundert, schätze ich.«
»Mehr als hundert? Aber mehr als hundert können hundertzehn sein oder auch hunderttausend. Das musst du schon genauer sagen.«
»Na gut. Dann sage ich … hundertdreiunddreißigeinhalb.«
Jessy überlegte noch einen Moment. »Ich sage hundertzweiundsechzig.«
»Dann müssen wir das jetzt aber auch ausmessen«, beschloss Isa.
Sie schnallten die Rollschuhe wieder ab, holten so viel Paketband aus Onkel Carlos Werkzeugkeller, wie sie finden konnten, knoteten die Enden zusammen, spannten das Band diagonal über die Gasse von einem Hauseingang zum anderen, vermaßen es anschließend mit dem Zollstock und kamen auf hunderteinundvierzig Meter.
»Wir haben beide falsch getippt«, sagte Isa enttäuscht.
»Nicht so schlimm«, meinte Jessy, »Jetzt wissen wir jedenfalls, wie weit ein Katzensprung ist.«
»Ja, und wir wissen, wie viele Meter wir laufen müssen, wenn wir uns besuchen wollen.«
»Aber nur, wenn nichts im Weg steht.«
»Stimmt. Meistens steht ja was im Weg, ein Fahrrad oder ein Kinderwagen, oder es hat geregnet und überall sind Pfützen.«
Die Hindernisse grob mit eingerechnet hatten sie sich darauf geeinigt, dass die Häuser hundertfünfzig Meter voneinander entfernt lagen. Mit dem guten Gefühl der Übereinstimmung holte Jessy ihre Knieschoner und sie machten sich auf den Weg zur Rollschuhbahn. Wie unterschiedlich ihre Ansichten auch waren, am Ende einigten sie sich immer, und das war das Schöne an ihrer Freundschaft.
»Das nennt man einen Kompromiss«, erklärte Annette am Abend, als Jessy ihr davon erzählte. »Wenn zwei Menschen unterschiedlicher Meinung sind, sich aber entgegenkommen und in der Mitte treffen, dann ist das ein Kompromiss. Kompromissbereitschaft ist eine wertvolle Eigenschaft fürs Leben, man zeigt dem anderen, dass man seine Ansicht schätzt und Wert darauf legt, weiterhin miteinander auszukommen.«
Kompromisse zu finden war seither Jessys größtes Bestreben.

Das kleine Fachwerkhaus, in dem Jessy mit ihrer Mutter und den Großeltern lebte, stand in der Lübecker Altstadt in einem dieser schmalen Gänge, in denen sich die Häuserreihen eng gegenüberstanden, sodass man nicht von Straßen, auch nicht von Gassen, sondern von Gängen sprach. Und die Häuser, die sich in den Gängen aneinanderreihten, nannte man dementsprechend Ganghäuser.
Mit den Sprossenfenstern, der Begrünung an den getünchten Fassaden und den Gartenbänken vor den Eingängen vermittelten die Gassen einen heimeligen Eindruck und man fühlte sich eher wie auf einer privaten Terrasse. Hier kannte jeder jeden, man grüßte sich, hielt einen Schwatz, man saß oder stand herum, trank einen Tee oder ein Bier, putzte das Fahrrad oder die Schuhe und tauschte die Neuigkeiten des Tages aus, während die Kinder Hüpfkästchen aufmalten, Seil sprangen oder fangen spielten. Auch Jessys Großeltern saßen vor der Tür auf ihrer grün lackierten Holzbank, wann immer das Wetter es zuließ, Opa mit der Zeitung, Oma mit einem Buch, einer Handarbeit oder mit einer Schüssel Kirschen, die sie entkernte. Und die Sorrentinos, Isas Familie, sowieso. Onkel Carlo war nämlich Italiener und in Italien spielte sich das Leben draußen ab. Er arbeitete in der Marzipanfabrik und brachte den Kindern Schweinchen oder andere Glücksbringer aus Marzipan mit, die viel zu schade zum Essen waren, weshalb Jessy sie sammelte und ins Regal stellte. Tante Betty war die ältere Schwester ihrer Mutter, und dann gab es da noch Chiara, Isas jüngere Schwester, die ein kleiner Teufel war. Aber abgesehen von der kleinen petzenden und Streit suchenden Zicke ging es friedlich zu in den Gängen. Mit nichts auf der Welt würde Jessy diesen Ort tauschen wollen.

An einem verregneten Herbsttag im Oktober aber nahm ein ungeahntes Drama seinen harmlosen Anfang. Jessys Mutter kam in letzter Zeit oft spät vom Drogeriemarkt nach Hause, obwohl der bereits um halb sieben schloss. Es gab im Lager noch so viel aufzuräumen, sagte sie dann, oder es sei Ware gekommen und die musste ausgezeichnet und in die Regale sortiert werden. Aber Jessy war nicht dumm. Ihr entging nicht, dass sie nach Wein und Zigaretten roch, obwohl sie gar nicht rauchte, aber vor allem entging ihr nicht, dass sie anders war als sonst. Sie hörte gar nicht richtig zu, wenn Jessy ihr von der Schule oder von ihrem Tag erzählte, und bei allem, was sie tat, summte sie ihre Kuschelrocklieder und grinste dabei vor sich hin. Sogar wenn sie das Geschirr spülte oder Staub saugte, gerade so, als würde ihr die Hausarbeit, die sie normalerweise möglichst schnell hinter sich brachte, plötzlich ungeheure Freude bereiten. Jessy nahm all das wahr, ohne sich etwas dabei zu denken, sie freute sich für ihre Mutter, dass sie so guter Dinge war, denn je öfter die unterwegs war, umso mehr Zeit konnte Jessy bei den Sorrentinos verbringen. Dennoch war da manchmal so ein komisches Gefühl, dass sie gar nicht einordnen konnte, besonders, wenn sie abends allein im Bett lag. Ihr war dann so, als könnte alles anders werden.
Wenn Onkel Carlo Frühschicht hatte, dann kochte er abends Gerichte nach den Rezepten seiner Mamma, und die waren immer ausgesprochen lecker. So auch an diesem ungemütlichen Oktoberabend. Mit seiner Lieblingsschürze – die hatte ihm seine Schwester Francesca genäht – stand er in der Küche, schnippelte und rührte und würzte und probierte, und während der Duft von Kräutern und Knoblauch und gebratenem Fleisch durch das ganze Haus strömte, jodelte er lauthals Melodien aus seiner Heimat.
»Raus mit dir!«, schimpfte er, als Tante Betty einen Blick durch die Küchentür wagte. »Ich bin heute der Koch, die Küche gehört mir!«
»Diesmal räume ich dein Schlachtfeld nicht auf!«, knurrte Tante Betty. »Garantiert nicht!«
Jessy, Isa und Chiara kannten das schon. Das sagte sie jedes Mal und dann räumte sie die Küche doch auf, denn ein Italiener mache niemals Hausarbeit, pflegte Onkel Carlo sich rauszureden.
Jessy fand das ganz schön altmodisch. »Opa packt immer mit an. Er macht den Abwasch, bringt den Müll raus, hängt die Wäsche auf, er macht alles.«
»Aber in Italien ist das anders«, verteidigte Isa ihren Vater. Dabei zuckte sie mit den Schultern, als wäre das eine unabänderliche Tatsache.
»Dann heirate ich keinen Italiener«, beschloss Jessy daraufhin. »Ich will einen Mann, der alles mit mir zusammen macht, auch die Hausarbeit.«
»Da verpasst du aber was«, sagte Onkel Carlo, der gerade die Schüssel mit der selbstgemachten Tomatensauce brachte. »Italiener sind witzig und klug und charmant und sie sind die besten Köche auf der ganzen Welt.« Er hielt Jessy die Saucenschüssel unter die Nase und fächerte ihr den Duft zu. »Na, hast du es dir anders überlegt?«
Es duftete köstlich, aber so schnell ließ sie sich nicht überzeugen. »Nö, noch nicht.«
»Ah, die Signorina ist anspruchsvoll. Warte, das Beste kommt noch.« Carlo stellte die Schüssel ab und tischte gleich darauf die Spaghetti und das gebratene Huhn auf.
Während des Essens erzählte er eine Geschichte aus seinem Dorf Airola, das in der Nähe von Neapel lag. Es waren immer dieselben Geschichten, doch er hatte eine so lustige Art zu erzählen, dass die Kinder ihm dennoch gern zuhörten. Wenn er von seiner Heimat erzählte, hatte er mit Tränen zu kämpfen. Dann wurde es für Jessy unangenehm.
»Es dauert nicht mehr lange, Papa, dann sind Winterferien und du kannst deine ganze große Verwandtschaft besuchen«, tröstete Isa ihn.
»Si, tesoro mio«, sagte er, tätschelte Isa die Hand und lächelte sein Heimweh weg. »Wir müssen noch jede Menge Weihnachtsgeschenke kaufen. Habt ihr die Liste gemacht?«
Mit Isa und Chiara sprach er viel Italienisch, damit sie sich verständigen konnten, wenn sie die Ferien in Italien verbrachten. Und das taten die Sorrentinos zweimal im Jahr, in den Sommerferien blieben sie ganze vier Wochen weg, und in den Weihnachtsferien nochmal zwei. Jessy wäre so gern einmal mitgefahren, doch es gab keinen Platz im Wagen, sagte ihre Mutter, und hier sei es doch auch ganz schön. Während Isa ihre aufregenden Ferien in Italien verbrachte, fuhr Jessy mit ihrer Mutter und den Großeltern an den See oder ans Meer. Sie verbrachten dort ein paar Stunden, aßen Fisch mit Pommes in einem Strandrestaurant und fuhren zurück nach Hause. Manchmal grillten sie in ihrem kleinen Garten hinterm Haus. Die Sommerferien waren für Jessy die langweiligste Zeit des gesamten Jahres. Ihre Oma sagte immer, sie sollte sich nicht an Isabella klammern und sich lieber noch andere Freundinnen suchen. Manchmal traf Jessy Nathalie und Kira auf der Rollschuhbahn, die waren auch ganz nett. Aber wenn sie tuschelten und kicherten, dann hatte sie das Gefühl, dass sie sie gar nicht dabei haben wollten.
»Warum hast du eigentlich keinen Vater?«, fragte Isa überraschend an diesem Abend.
Jessy blickte sie erstaunt an. »Ich? Hm, ich weiß nicht. Manche Kinder haben keinen Vater.«
»Aber das geht nicht. Jedes Kind hat einen Vater«, protestierte Isa.
Jessy blickte fragend zu Tante Betty, die sah Onkel Carlo ratlos an, der wippte mit dem Kopf, so wie er es immer tat, wenn er keine Antwort wusste, und murmelte etwas auf Italienisch.
»Tja, also, das fragst du am besten deine Mutter«, sagte Tante Betty.
Jedes Kind hat einen Vater, wiederholte Jessy in Gedanken, während sie mit Isa und Chiara, die immer im Weg stand, den Tisch abräumte und das Geschirr in die Küche trug. Sie hatte nie darüber nachgedacht. Es war eben so, sie hatte keinen Vater.
Tante Betty stellte einen Teller mit Knabbereien auf den Tisch, servierte zwei Tassen Espresso für Onkel Carlo und sich selbst und nahm Platz. »Wo deine Mama heute bleibt«, bemerkte sie beim Blick auf die Wanduhr. »Morgen ist doch Schule.«
Draußen war es längst dunkel. Immer noch ließ der Wind den Regen laut gegen die Scheiben prasseln.
»Gibt es da jemanden?« Onkel Carlo blickte seine Frau mit hochgezogener Augenbraue an.
Jessy verstand die Frage nicht. Was sollte das bedeuten: Gibt es da jemanden? Wo sollte es jemanden geben?
»Es würde mich freuen«, sagte Tante Betty.
Die Erwachsenen hatten ihre Geheimsprache, damit die Kinder nichts verstanden. Jessy wollte jetzt sowieso lieber nach Hause. Und als es gleich darauf klingelte, sprang sie auf, lief in den Flur und öffnete die Haustür.
»Mama, da bist du ja.« Jessy registrierte die leichten Schuhe mit Absatz an den Füßen ihrer Mutter und den dünnen Blazer, den sie trug und der an den Schultern ganz durchnässt war. Wenn sie selbst bei dem Wetter so rausgehen wollte, würde sie sich einen Rüffel einfangen.
»Ist etwas später geworden, mein Spatz. Wir haben noch Ware bekommen und die musste ins Regal.«
Tante Betty kam dazu. »Annette! Du bist ja ganz durchgefroren! Komm doch rein.«
»Danke, aber ich will schnell unter die Dusche. Jessy, komm, zieh dich an.«
Jessy lief in die Küche, verabschiedete und bedankte sich für das leckere Essen, lief zurück in den Flur und zog Jacke und Schuhe an.«
»Dann lass uns schnell rüber flitzen.«
Betty griff nach einem Regenschirm im Schirmständer. »Hier, nehmt den mit.«
»Ach was. Sind doch nur ein paar Meter.« Annette nahm ihre Tochter an die Hand und bedankte sich bei ihrer Schwester. Mit zusammengezogenen Schultern liefen sie durch den kalten Regen. Ein Schirm wäre nicht schlecht gewesen, denn bei diesem Wetter reichten hundertfünfzig Meter aus, um patschnass zu werden.
Ihre Großmutter musste sie gehört haben und öffnete sogleich die Wohnungstür, als sie den Flur betraten.
»Annette!«, schimpfte sie gleich los. »Schon wieder so spät?«
»Was kann ich dafür? Es ist Ware gekommen. Kennst ja den Heinze. Der will, dass alles gleich eingeräumt wird.«
»Jaja«, sagte die Oma und musterte die beiden. »Patschnass seid ihr. Jessica holt sich noch den Tod.«
Die Großmutter war die einzige, die Jessy mit vollem Namen ansprach. Sie mochte es nicht, wenn Vornamen verniedlicht wurden. Für sie war Betty Bettina, Isa Isabella und Jessy eben Jessica. Sie selbst hieß Katharina und sie konnte es nicht leiden, wenn der Opa sie versehentlich – manchmal auch absichtlich – Kathi oder sogar Trine nannte.
Ihre Mutter wuschelte ihr durchs Haar. »Ach, das bisschen Regen. Das härtet uns ab, was, mein Spatz?«
»Wenn deine Mama lange arbeiten muss, kannst du auch  bei uns zu Abend essen.«
»Ja, ich weiß. Aber heute hat Onkel Carlo Spaghetti Napoli gekocht, und dann gab es noch gebratenes Hähnchen.«
»Abends so viel zu essen ist nicht gut für die Figur«, sagte die Oma. »Das sieht man doch an Carlo.«
Annette verpasste Jessy einen Klaps. »Jetzt aber ab nach oben.«
Im Vergleich zu ihrem Großvater war Onkel Carlo tatsächlich ein bisschen rundlich, dachte Jessy, während ihre Mutter ihr die Haare trocken rubbelte. Und ihre Oma war auch schlank und drahtig, obwohl sie schon über fünfzig war. Aber ein Leben lang Abend für Abend Leberwurstbrot und eingelegte Gurken zu essen, das wäre Jessy viel zu langweilig. Was man da alles verpasste!
»Schlaf gut, mein Spatz«, sagte ihre Mutter, als Jessy im Bett lag, und fuhr ihr sanft mit der Hand über die Stirn.
»Mama?«
»Ja?«
»Isa hat mich heute gefragt, warum ich keinen Vater habe.«
»Tatsächlich? Na sowas.« Annette deckte sie zu. »So, jetzt wird geschlafen.«
»Aber warum hab ich denn keinen Vater?«
»Naja, viele Kinder haben keinen Vater. Oder keine Mutter. Oder sie haben gar keine Eltern. Das ist nicht ungewöhnlich.«
»Aber in Wirklichkeit muss jedes Kind einen Vater haben. Sonst geht das ja gar nicht.«
»Aber du hast doch Onkel Carlo, der ist fast sowas wie ein Vater.«
Jessy lächelte. »Ja, der ist immer lustig.«
»Na, siehst du. Und dann hast du ja auch noch deinen Großvater.«
»Aber was ist mit meinem richtigen Vater? Ist der tot?«
»Tot?«, entwich es Annette betroffen. «Nein! Nein, Jessy, er ist nicht tot.«
»Was ist denn mit ihm? Warum kenne ich ihn nicht? Wohnt er weit weg?«
»Ja. Ja, so ist es. Er wohnt ganz weit weg.«
»Wie weit? Kann ich ihn mit dem Zug besuchen?«
»Nein, das geht nicht. Er lebt in Amerika und dahin kommt man nicht mit dem Zug.«
»Warst du in Amerika? Habt ihr euch da kennengelernt?«
»Nein, weißt du, das war so. Seine Großeltern, die kamen aus Deutschland, aus Lübeck. Die wollte er besuchen, bevor der Ernst des Lebens losgeht.«
»Was ist der Ernst des Lebens?«
»Das ist eine Redewendung und die besagt, dass man jetzt erwachsen ist und sich um wichtige Dinge wie Beruf und Geld verdienen und Familie gründen kümmern muss.«
»Das ist eine komische Redewendung. Onkel Carlo hat doch auch viel Arbeit und eine Familie, und Geld verdient er auch, und trotzdem ist er immer lustig.«
»Ja, das stimmt. Er ist eine Frohnatur.«
»Wie ist mein Vater? Ist er auch so fröhlich?«
»Naja, nicht so wie Carlo, aber schon ein bisschen.«
»Und du hast ihn in Lübeck getroffen?«
»Ja, wir haben uns getroffen und wir mochten uns sehr, aber er musste ja zurück nach Amerika, nach Montana, und seinen Eltern helfen. Sie haben eine große Ranch mit Rindern und Pferden und die sollte er übernehmen.«
»Weiß er, dass es mich gibt?«
»Nein, das weiß er nicht.«
»Aber das muss er doch wissen. Können wir nicht hinfahren? Er wird sich freuen, dass er eine Tochter hat.«
»Naja, wie bereits gesagt, Amerika ist ganz schön weit. Und so eine Reise ist für uns viel zu teuer.«
»Dann spare ist jetzt mein ganzes Taschengeld und ich will keine Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag, sondern Geld, und ich lerne amerikanisch …«
»Englisch, mein Spatz, in Amerika spricht man Englisch.«
»Gut, ich lerne jetzt Englisch und nächstes Jahr in den Sommerferien fliegen wir nach Amerika. Versprichst du mir das?«
»Das werden wir dann sehen.«
»Nein, versprich es mir.«
»Gut, versprochen. Jetzt wird aber geschlafen.« Ihre Mutter stand auf und schaltete das Licht aus.
»Mama?«
»Ja?«
»Wie heißt er?«
»Ach so, ja, also, er heißt … er heißt Jack.«
»Jack«, wiederholte Jessy gerührt. »Er fängt mit demselben Buchstaben an wie ich.«
»Ja«, sagte ihre Mutter und schloss leise die Tür.
Zufrieden zog Jessy die Decke bis zum Kinn. Sie war Isa so dankbar, dass sie sie nach ihrem Vater gefragt hatte. Gleich morgen würde sie ihr von ihm erzählen. Es gab ihn nämlich, ihren Vater, er hieß Jack und er lebte in Amerika. Sie freute sich auf das verblüffte Gesicht ihrer Cousine.