Crêperie mit Meerblick

Unverhofftes Wiedersehen, Feuer im Kamin und jede Menge Lieblingscrêpes

Als Leonie den charismatischen Juristen Stefan kennenlernt, ist sie sofort von ihm hingerissen, und als er ihr bald darauf einen Antrag macht, kann sie ihr Glück kaum fassen. Anfangs fasziniert von der neuen Welt, die er ihr zu Füßen legt, lernt sie bald die Schattenseiten kennen. Der Erfolgsdruck in der Kanzlei verändert ihn und immer öfter stellt sie sich die Frage, ob die überstürzte Heirat ein Fehler war.

Als sie kurz vor Weihnachten einen Besuch in ihre Heimatstadt plant, versucht Stefan ihr Vorhaben zu vereiteln. Leonie hält seine Eifersucht auf ihre Jugendliebe für absurd, sie hat Chris seit Ewigkeiten nicht gesehen. Doch als sie ihm unerwartet gegenübersteht, gerät ihre Gefühlswelt ins Wanken.

Buch 4 der romantischen Ostseereihe mit Herz, Humor und Happyend

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Leseprobe

Kapitel 1

Es ging nichts mehr auf der Landsberger Straße. Der frisch gefallene Schnee hatte den Verkehr in der Münchner Innenstadt komplett zum Erliegen gebracht. Seit dem Mittag schneite es dichte weiße Flocken aus einer grauen Wolkendecke, die sich anscheinend über der Stadt festgesetzt hatte.
Genervt rieb Leonie sich die Stirn. Seit zwanzig Minuten stand sie nun schon vor derselben Kreuzung und war gerade mal zwei Autolängen vorwärtsgekrochen oder besser geschlittert. Nimm lieber die U-Bahn, hatte Stefan ihr geraten. Wenn sie auf ihn gehört hätte, läge sie längst bei entspannender Musik in ihrer Badewanne und würde den Stress von sich abfallen lassen. 
Ihr Handy klingelte und sie sah, dass er es war.
»Wo bleibst du denn? Es ist halb acht. Ich warte auf dich.«
»Wieso? Haben wir was vor?«
»Ja, das haben wir. Es gibt nämlich verdammt gute Neuigkeiten.«
»Tatsächlich?« Es war eine rhetorische Frage, denn mit Sicherheit würde er am Telefon nichts preisgeben. Er machte es gern spannend, dabei waren seine verdammt guten Neuigkeiten nicht schwer zu erraten. Mit hundertprozentiger Sicherheit hatte er seinen aktuellen Fall gewonnen.
»Ja, tatsächlich. Also, wann kommst du?«
»Es kann noch dauern.«
»Sag nicht, du steckst im Stau.«
»Nein!«, entgegnete sie schnell und suchte nach einer Ausrede. Sie gab nur ungern zu, dass er mal wieder recht gehabt hatte. Aber nach dem langen Arbeitstag war ihr Kopf leer und ihr fiel keine Entschuldigung ein. »Ja, ich stecke im Stau!«, gab sie genervt zu.
Er ließ sich Zeit mit seinem Kommentar, der gleich zwangsläufig kommen würde, und sie sah es genau vor sich, wie er in seiner schwarzen Anzughose und dem weißen Hemd am Küchentresen stand – er telefonierte immer im Stehen, um besser gestikulieren zu können – die eine Hand in die Hüfte stemmte und mitleidig den Kopf schüttelte.
»Warum hast du nicht die U-Bahn genommen?« 
»Heute früh war der Himmel blau.«
»Ich hatte dich gewarnt.«
»Du, es geht weiter, bis gleich«, sagte sie schnell und legte auf. Es ging nicht weiter, aber was sie jetzt am wenigsten brauchte, waren seine Besserwissersprüche. Er hatte leicht Reden. Seine Kanzlei lag nur eine U-Bahnstation von ihrer Wohnung entfernt. Weder verstopfte Straßen noch ein Unwetter konnte ihn daran hindern, in sein Büro zu gelangen, es war im Notfall fußläufig zu erreichen. Ihr Arbeitsplatz hingegen befand sich in Laim und das lag auf der anderen Seite der Innenstadt. Während sie sich das bewusst machte, stieg Ärger in ihr hoch – und nicht zum ersten Mal in diesem Winter – weil er unbedingt die Penthouse-Wohnung in Haidhausen hatte kaufen müssen. Ihre Meinung war dabei nicht von Belang gewesen, denn als er ihr die Wohnung als kleine Überraschung präsentiert hatte, was der Deal längst in trockenen Tüchern gewesen.
Wieder war das Martinshorn dumpf hinter ihr zu hören und holte ihre Aufmerksamkeit auf die Landsberger Straße zurück. Sie betete, dass das Fahrzeug gut durchkam, das Problem behoben werden konnte und es endlich weiterging. Seufzend lehnte sie den Kopf zurück. Ja, verflixt, sie hätte die U-Bahn nehmen sollen.
Eine gute Stunde später erreichte sie endlich die Tiefgarage des Apartmenthauses und parkte ihren BMW. Sie stieg aus, hängte ihre Tasche um, legte den Mantel über den Arm und ließ sich vom Lift in den sechsten Stock hinauffahren. Sie freute sich darauf, endlich die engen Pumps ausziehen zu können, alles von sich abzuwerfen und sich ein heißes Bad einlaufen zu lassen.
Jazzmusik klang dezent aus dem Innern der Wohnung, als sie sie betrat. Sie legte die Tasche an der Garderobe ab, hängte den Mantel auf einen Bügel und ging hinüber in den großzügigen Wohnraum. Zwei Sektflöten standen auf dem Küchentresen bereit, daneben der Sektkühler mit einer Flasche Champagner und ein üppiger bunter Blumenstrauß mit Rosen in unterschiedlichen Rosatönen. Sie schnupperte an den Blüten und lächelte. Er wusste, was ihr gefiel.
»Stefan?«
Mit dem Handy in der Hand hüpfte er gleich darauf die schwebenden Holzstufen hinunter, die in die obere Etage auf die Galerie führten. Von dort aus waren Schlafzimmer, Bad und Arbeitszimmer zu erreichen. Letzteres beanspruchte er zwar für sich, nutzte es aber selten. Wenn er Akten mit nach Hause nahm, was häufig vorkam, dann verteilte er sie auf den gesamten achtundsechzig Quadratmetern des offenen Wohnbereichs und auf dem Küchentresen, was sie vor allem dann ärgerte, wenn sie kochen wollte. Dann aber musste alles weichen, was nichts mit seinem Fall zu tun hatte, Tassen, Blumen, Obstschale, dann war seine Arbeit das Zentrum des Universums. Für diesen Enthusiasmus hatte sie ihn von Anfang an bewundert. Er konnte sich mit Eifer an einer kniffligen Sache festbeißen – je verzwickter, umso verbissener – und ließ nicht locker, bis er einen Trick gefunden hatte, der zur Lösung beitrug. 
»Na endlich, Spatzl!«, begrüßte er sie überschwänglich und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Entschlossen marschierte er zum Küchentresen, nahm den Champagner aus dem Kühler und ließ den Korken knallen, während er sie mit seinem Siegerlächeln angrinste.
Feierlich hob er die Brust. »Wir haben gewonnen!« 
Leonie hatte nur am Rand Fragmente seines aktuellen Falls mitbekommen, in dem es, wie in den meisten seiner Fälle, um Betrug im großen Stil ging. Wenn er ihr abends von seiner Arbeit berichtete, war sie müde, er hingegen war aufgekratzt und konnte erst abschalten, wenn er die gesamte Verhandlung nochmal abgespult hatte. Nach seinem Jurastudium hatte er sich mit zwei Kommilitonen zusammengetan und eine Kanzlei für Wirtschaftsrecht eröffnet. Und jetzt, mit Mitte dreißig konnten sich die drei gegenseitig auf die Schultern klopfen. Sie hatten sich einen Namen gemacht, der über die Münchner Stadtgrenzen hinaus bekannt war.
»Gratuliere!«, sagte sie.
Er schenkte Champagner ein, nahm beide Gläser und reichte ihr eins. »Auf unsere Erfolge!«
Es klang, als wäre sie daran beteiligt gewesen: Auf unsere Erfolge! Er bezog sie gern ein, in alles, was er tat, und er hatte sie gern an seiner Seite, wenn es um repräsentative Events ging. Aber sie wusste natürlich, dass unsere Erfolge die Erfolge der Kanzlei waren, und damit hatte sie zum Glück nichts zu tun. »Das habt ihr ja wieder grandios hinbekommen«, sagte sie, trank einen Schluck Champagner und stellte das Glas ab.
»Ja! Das haben wir«, bestätigte er mit fester Stimme. 
»Du, ich bin völlig fertig, ich geh in die Wanne.« Sie wandte sich zum Gehen, doch er hielt sie am Arm zurück. »Dafür ist keine Zeit. Wir treffen uns alle bei Giovanni. Zieh dich schnell um, wir sind eh schon spät dran.«
Das hatte sie befürchtet. Er ließ es sich niemals nehmen, einen davongetragenen Sieg zu feiern, in der Regel in der italienischen Trattoria, die sich gleich neben der Kanzlei befand. Dort war quasi das zweite Zuhause für ihn und seine beiden Geschäftspartner Martin und Sam. »Geh doch heute mal alleine. Ich bin müde und durchgefroren.«
Er stellte sein Glas ab und umklammerte sie mit beiden Armen. »Na, komm schon. Silvie wird da sein und Sam wollte seine neue Freundin mitbringen. Es wäre doch gut, wenn ihr euch kennenlernt. Und außerdem, Spatzl, verspreche ich dir, dass wir die Arbeit ausklammern. Es wird bestimmt ein netter Abend.«
Leonie kannte Silvie schon länger und sie mochte sie. Es wäre schön, mal wieder einen netten Abend mit ihr zu verbringen, nur eben heute nicht. Heute ging es einfach nicht, warum konnte er das nicht respektieren? Sie löste sich aus seiner Umklammerung. »Ich habe eine Ewigkeit im Stau gestanden, draußen liegt ein halber Meter Schnee und es schneit immer noch. Ich will da heute nicht mehr raus, ich will es mir jetzt einfach nur gemütlich machen.«
»Aber Spatzl, das Lokal liegt gleich neben unserer Kanzlei. Wir können zu Fuß hinlaufen, wenn es sein muss, trage ich dich hin.«
Er ließ nicht locker. »Nein, Stefan, heute einmal nicht!«, sagte sie entschlossen.
Er schenkte Champagner nach und ließ ihn die Kehle hinunterströmen. Sie sah ihm an, dass er seinen Ärger damit herunterspülte, dennoch ließ sie ihn stehen, ging hinauf ins Schlafzimmer, zog ihre Sachen aus und schlüpfte in den Frotteebademantel. Im Bad drehte sie das Wasser auf und gab eine großzügige Portion Badezusatz hinein. Sie liebte den Duft von Fichtennadelöl, er erinnerte sie an lange gemütliche Winterabende in ihrer Kindheit, wenn sie und ihr Bruder mit roten Nasen und halb abgefrorenen Fingern zuerst ein warmes Bad nahmen und dann vor dem Kamin einen heißen Kakao von der Oma serviert bekamen. Während sie mit der Hand das Öl im Wasser verteilte, nahm sie wahr, wie Stefan sich auf leisen Sohlen an sie heranpirschte und seine Hände an ihre Taille legte.
»Ohne dich gehe ich nicht.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Unsinn! Natürlich gehst du und feierst deinen Erfolg.«
»Nein, ich komme mir blöd vor, wenn Sam und Martin mit Anhang kommen und ich alleine dabeisitze.«
»Wäre das wirklich so schlimm?«
»Ja, das wäre es. Alleine gehe ich nicht. Ich bleibe hier und wir machen uns zusammen einen schönen Abend.«
»Wie du willst.«
Er wandte sich schon zum Gehen ab, überlegte es sich dann anscheinend nochmal anders. »Pass auf: nimm du dein Bad und ich laufe rüber zu Giovanni und hole uns ein leckeres Abendessen, okay?«
»Das ist doch eine gute Idee.«
Er verschwand nach unten, sie stellte das Wasser ab und prüfte die Temperatur. Dann steckte sie ihr langes braunes Haar zusammen, ließ den Bademantel von den Schultern gleiten und stieg durch die aufgetürmten Schaumberge in die wohlig warme Wanne. Wie sie Stefan kannte, würde er noch ein Glas mit den anderen trinken, vermutlich eher zwei, sie hatte also mindestens eine Stunde für sich allein. Sie schloss die Augen und lauschte den fernöstlichen Klängen aus dem CD-Player.  

Nach dem Bad fühlte sie sich wieder wie ein Mensch und sie war froh, den Rest des Abends ganz für sich allein zu haben und nicht in Gesellschaft sein zu müssen, in der erwartet wurde, dass sie gut drauf war. Stefan verstand es prima, sie zu etwas zu überreden, wozu sie keine Lust hatte. Sie hatte sich schon oft vorgenommen, mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse zu hören, heute war sie endlich einmal hartnäckig geblieben. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass er bereits seit über einer Stunde fort war. Jetzt hatte er ja doch noch seine kleine Feier, und das ganz ohne sie!
Sie nahm die letzten zwei Beutel Früchtetee aus der Packung, faltete die Schachtel zusammen und brachte sie in den Haushaltsraum, in dem sich Waschmaschine, Trockner, Putzzeug und auch die Kiste fürs Altpapier befanden. Die war schon wieder bis oben hin voll mit den vielen Tageszeitungen, die Stefan abonniert hatte. Sie schärfte den Blick, als ihr eine Briefmarke auf einem hellblauen Kuvert auffiel, das zwischen den Zeitungen hervorlugte. Im ersten Moment dachte sie, dass es einer von den vielen Spendenbriefen war, die gerade vor Weihnachten zahlreich versendet wurden, doch irgendwas daran machte sie neugierig und sie zog es heraus. Sie traute ihren Augen nicht, als sie das hellblaue, mit niedlichen Stickern versehene Kuvert in der Hand hielt, auf dem in kindlicher Handschrift ihre Adresse stand. Überrascht hob sie die Augenbrauen. Es war lange her, dass sie handgeschriebene Post bekommen hatte, dass überhaupt jemand einen persönlichen Brief schrieb. Auf der Rückseite stand als Absender in verschnörkelter Schrift: Charlotte.
Leonie lächelte. Ein Brief von Charlotte, ihrem Patenkind! Sie rechnete im Kopf nach, wie alt sie jetzt sein musste, doch das Piepsen der Küchenuhr unterbrach sie. Sie ging hinüber in den Küchenbereich, nahm die Teebeutel aus der Kanne, stellte einen Becher und Honig aufs Tablett und trug es zum Couchtisch. Charlotte war am sechzehnten Dezember geboren, an das Datum erinnerte sie sich genau.
Noch bevor sie den Umschlag öffnete, fiel ein Foto heraus und landete auf dem Teppich. Bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass das Kuvert seitlich aufgeschlitzt worden war, als wäre es bereits geöffnet worden. Sie wunderte sich kurz und bückte sich dann nach dem Foto. Es zeigte Charlotte, die kess in die Kamera lächelte. Wie hübsch sie war. Leonie zog den hellblauen Briefbogen heraus und faltete ihn auseinander.
Einladung zum Geburtstag. Liebe Leonie, am sechzehnten Dezember werde ich zehn Jahre und ich möchte dich zu meiner Geburtstagsfeier einladen. Wir alle, Mama, Papa, Tim und Louis und ich ganz besonders, würden uns freuen, wenn du kämst. Ich finde es schade, dass ich meine Patentante gar nicht kenne. Das letzte Mal haben wir uns vor fünf Jahren bei Tims Geburtstag gesehen und ich kann mich fast gar nicht mehr an dich erinnern. Deine Charlotte. Du kannst mir auch eine WhatsApp-Nachricht schicken. Darunter hatte Charlotte ihre Handynummer vermerkt.
Gerührt betrachtete Leonie das Foto nochmal. Die Kleine hatte ein bisschen Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Rike, helle Haut und blaue Augen, dazu die dunklen Locken, die ihr eine exotische Note verliehen. Die allerdings hatte sie Erik, ihrem Vater, zu verdanken, denn Rike war strohblond.
Leonie schenkte Tee in den Becher, ein Duft von Orangen, Zimt und Nelken stieg ihr in die Nase und unterstrich die winterliche Stimmung, die sich ihr beim Blick durch die breite Fensterfront auf die verschneite Dachterrasse bot. Plötzlich stutzte sie. Der sechzehnte Dezember war bereits übermorgen. Hatte Charlotte den Brief tatsächlich so kurzfristig abgeschickt? Einem leisen Verdacht folgend griff sie nochmal nach dem Briefumschlag. Er war am zweiten Dezember, also bereits vor zwölf Tagen, abgestempelt worden. Wenn sie den Brief nicht zufällig entdeckt hätte, wäre er ihr entgangen. Warum war er überhaupt im Altpapier gelandet? Und warum war das Kuvert geöffnet gewesen? Sie schluckte, als sich ihr unterschwelliger Verdacht ein stückweit mehr manifestierte. Aber traute sie ihm wirklich zu, dass er ihre Post heimlich verschwinden ließ? Noch vor einem Jahr hätte sie es für absurd gehalten, wäre nicht mal im Entferntesten auf die Idee gekommen, inzwischen aber war sie sich nicht mehr sicher. Er hatte sich so sehr verändert. Nach einem Moment des Grübelns besann sie sich. Nein, sie tat ihm Unrecht. Warum hätte er das tun sollen? Es gab keinen Grund. Vermutlich hatte Lucyna, ihre Haushaltshilfe, den Brief zwischen den vielen Zeitungen nicht bemerkt und versehentlich entsorgt.
Mit dem Teebecher in der Hand lehnte Leonie sich zurück, Charlottes Brief neben sich, und geriet ins Träumen, stellte sich vor, wie es wäre, einfach den Koffer zu packen und hinzufliegen, ganz spontan, nur für ein paar Tage, und sie sah die erstaunten und zugleich erfreuten Gesichter vor sich, wenn sie ihr die Tür öffneten. Ja, das wäre schön, dennoch verwarf sie die Idee schnell wieder. Sie würde Stefan nicht davon überzeugen können, nicht so kurzfristig. Sie speicherte Charlottes Handynummer in ihrem Handy und wollte gerade ihre Absage eintippen, als sie den Schlüssel in der Wohnungstür hörte. 
»Bin wieder da!«, rief Stefan schon von der Diele aus, als er geschlagene zwei Stunden später zurückkam. Er hielt sich mit der einen Hand am Türrahmen fest, als er umständlich versuchte, seine Schuhe abzustreifen, in der anderen Hand hielt er eine Papiertüte vom Italiener. Auf Socken tapste er dann zu ihr, küsste sie kurz und stellte die Tüte auf dem Tisch ab. »Hab dir deinen Lieblingssalat mitgebracht.« 
»Danke. Du hast schon gegessen?«
»Eine Kleinigkeit. Sie haben mich genötigt zu bleiben. Schlimm?«
»Nein, natürlich nicht. Und, wie war’s?«
»Lustig war’s. Man gewinnt nicht alle Tage einen solchen Fall. Okay, sie werden in Berufung gehen, das haben die Anwälte bereits angekündigt, aber ehrlich, Spatzl? Wenn sie schlau sind, lassen sie es. Sie werden damit scheitern. Aber gut, kann mir nur recht sein. Ist für unsere Kanzlei die beste Werbung.«
»Komm setz dich, ich habe Tee gekocht«, sagte sie.
»Tee?«, fragte er fast belustigt, marschierte in Socken zum Kühlschrank und angelte die Champagnerflasche heraus, in der sich noch ein Rest befand. 
Er war in Feierlaune und mit Sicherheit hatte er bereits mehr als ein Glas Wein intus. Mit seiner geschmeidigen schlanken Statur tapste er zurück zum Sofa, setzte die Flasche an und trank einen Schluck. Als Student hatte er als Model gejobbt, das hatte er ihr einmal erzählt. Äußerlich hatte er das Zeug dazu, aber er war nicht der Typ, der sich herumkommandieren ließ, er wollte selbst bestimmen. Sein weißes Hemd hing am Rücken etwas aus der Hose, ein Zeichen, dass er nicht mehr ganz nüchtern war.
»Kim, die Freundin von Sam, und Silvie waren gar nicht dabei«, sagte er. »Hatten angeblich eine Einladung zu einer Vernissage.«
»Oh! Da kann ich ja froh sein, dass ich nicht mitgegangen bin. Sonst hätte ich euch drei Helden alleine bewundern müssen«, frotzelte Leonie. 
»Du hast allen Grund, deinen Mann zu bewundern, Spatzl.« Mit der Flasche in der Hand stellte er sich vor die Fensterfront und wandte den Blick hinaus. »Herrlich, dieser Ausblick, was?«
»Ja, es ist total romantisch mit dem Schnee!« Sie stand auf, trat ans Fenster und hakte sich bei ihm unter. »Und weißt du, was ich mir vorhin vorgestellt habe?«
»Hm?«
»Ich dachte, wir stellen dieses Jahr mal einen Weihnachtsbaum draußen auf. Ich habe große Lust, über den Christkindlmarkt zu bummeln, ein paar schöne Kugeln zu kaufen, oder Engelchen aus Holz, einen Glühwein zu trinken …«
Er drehte sich zu ihr um und blickte sie amüsiert an. »Dein Ernst?«
»Ja! Lass uns ein schönes Fest feiern, ganz traditionell, mit Weihnachtsbaum, selbstgebackenen Keksen und einer Weihnachtsgans. Wir könnten ein paar Freunde einladen und mit ihnen gemeinsam feiern, Wichtelgeschenke verlosen …«
»Spatzl«, unterbrach er sie, »das klingt ja ganz nett und das können wir alles machen, aber nicht dieses Jahr. Weihnachten verbringen wir auf den Malediven, ich dachte, das hätten wir besprochen.«
»Wann haben wir das besprochen? Du hattest es vorgeschlagen, ja, aber wir hatten nichts beschlossen. Oder hast du etwa schon was gebucht?« Ohne mich zu fragen, hätte sie am liebsten hinzugefügt.
»Bin noch nicht dazu gekommen. Aber das ist kein Problem, ein Hotel ist schnell gefunden.«
Leonie atmete auf. Sie konnten sich noch umentscheiden. »Na, das ist doch prima. Dann bleiben wir einfach hier. Und Silvester buchen wir ein Zimmer in einem Berghotel, fahren ein bisschen Ski oder Snowboard …«
»Hast du eine Ahnung, was gerade Silvester in den Berghotels los ist? Da geht es zu wie am Ballermann! Ich habe anstrengende Wochen hinter mir und will einfach nur dem ganzen Trubel entfliehen.«
»Ich aber nicht!«, konterte sie mit Vehemenz.
»Willst du mir jetzt die Laune verderben?«
»Bitte? Nur, weil ich mal nicht deiner Meinung bin?«
»Weil du wie eine verzogene Göre klingst: Ich aber nicht!«, äffte er sie nach.
Sie funkelte ihn an. Es war nicht das erste Mal, dass er ihr diesen Vorwurf machte. »Wie redest du mit mir?«
Genervt verzog er den Mund und fuhr sich durchs Haar. »Ja, sorry, aber genauso ist es doch. Ich meine, wir sollten dankbar sein für das, was wir erreicht haben und was wir uns leisten können. Die meisten Menschen in dieser Stadt würden gern mit uns tauschen, sie würden nichts lieber tun, als Weihnachten im sonnigen Süden zu verbringen. Aber sie können es nicht, weil sie nicht die Mittel haben.« Er stellte die inzwischen leere Champagnerflasche am Boden ab, wandte sich ihr zu und griff nach ihren Händen. »Aber wir, Spatzl, wir haben die Mittel, uns liegt die Welt zu Füßen, wir sind diejenigen, die auf der Gewinnerseite stehen. Wir haben uns den Erfolg verdient, wir können es uns leisten. Warum also sollten wir den grauen Himmel wählen, wenn wir die Sonne haben können?«
Sein versöhnliches Lächeln nahm ihr allen Wind aus den Segeln. Mal wieder! Sie versuchte erst gar nicht, seinen Argumenten etwas entgegenzusetzen, denn gegen seine Rhetorik kam sie ohnehin nicht an. Er war nicht umsonst ein erfolgreicher Verteidiger. Und irgendwie hatte er ja auch Recht. Es ging ihnen ausgesprochen gut, und das war in erster Linie seinem Erfolg zu verdanken. Ihr Einkommen als Assistentin in der Geschäftsleitung bei Malz & Witte, einem Münchner Büromöbelhersteller, fiel in der Haushaltskasse dagegen kaum ins Gewicht, obwohl sie nicht schlecht verdiente, verglichen mit den Jobs, die sie nach ihrem Germanistik-Studium ergattert hatte. Die Stelle hatte sie Stefans guten Kontakten zu verdanken. Als Nebenfach hatte sie Journalistik studiert. Beide Fächer, Germanistik und Journalistik, hatten mit Schreiben zu tun und genau das war immer ihr Traum gewesen. Und er war es immer noch. Leider blieb ihr dafür neben dem Job kaum Zeit. Eins konnte man zumindest von ihrem Job behaupten: Er war ausgesprochen vielseitig. Pausenlos war sie im Einsatz, das Aufgabenfeld reichte von Kaffee servieren, Briefe nach Diktat schreiben, Besucher empfangen, ungebetene Anrufer abwimmeln, Flüge buchen, den Kopierer wieder zum Laufen bringen, Jubiläen und Geburtstage der Mitarbeiter im Auge behalten und dergleichen – sie war Mädchen für alles und Assistentin der Geschäftsleitung war nur eine etwas vornehmere Bezeichnung dafür. Während sie für Herrn Malz zuständig war, kümmerte Rüdiger, mit dem sie sich ein Büro teilte, um die Belange von Frau Witte, Tag und Nacht, wenn sie wollte, und sie wollte durchaus. Beide gaben sich allerdings die größte Mühe, ihr kleines Geheimnis nicht öffentlich zu machen, was Leonie manches Mal zum Schmunzeln brachte. 
Sie seufzte leise. Malediven! Ganz gewiss ein Sehnsuchtsort, von dem viele träumten, sie aber träumte von einem Weihnachten zu Hause. Und ihr graute jetzt schon vor dem langen Flug. »Aber nächstes Jahr bleiben wir hier«, sagte sie ergeben.
»Ja okay, versprochen. So, und jetzt lass uns an diesem wunderbaren Tag nicht länger debattieren.« Er umklammerte ihre Taille und zog sie eng an sich. »Lass uns lieber nach oben gehen und den Tag noch ein bisschen wunderbarer machen.« Er küsste sie kurz, nahm ihre Hand und zog sie mit sich die Treppe hinauf.

 

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