Pavillon mit Meerblick – ab 25. Juli 2024

Amüsante Romanze um die Kunst, Nähe und Distanz auszubalancieren – Überraschungen nicht ausgeschlossen

Miriam ist rundum zufrieden mit ihrem Leben, sie mag ihren Job als Grafikdesignerin, bewohnt eine heimelige Zweizimmerwohnung in Flensburg und führt mit ihrem Freund Henrik eine aufregende Wochenendbeziehung. Eine feste Partnerschaft oder gar Familienplanung stehen mit ihren fünfundzwanzig Jahren noch lange nicht auf ihrer Agenda. Alles ist perfekt, so wie es ist.  

Bis Henrik eines schönen Tages mit Sack und Pack vor ihrer Tür steht, er habe Job und Wohnung in Kiel aufgegeben, um jeden Morgen neben ihr aufzuwachen. Miriam schnappt nach Luft. Bei so viel Nähe fürchtet sie um das Knistern zwischen ihnen. Die Lösung für das Problem ist überraschend schnell gefunden, denn zum Glück hat Nadine, ihre Kollegin, ein Zimmer frei. Aber ist es wirklich ein Glück, ihn ausgerechnet bei ihr einzuquartieren?

Buch 3 der Ostseereihe »Ab ans Meer« mit Herz, Humor und Happyend

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Leseprobe

Kapitel 1

Es war immer dasselbe. Jeden Montagmorgen. Seit sie ihn kannte und er die Wochenenden bei ihr verbrachte. Halb sieben, der Wecker klingelt, schlaftrunken streckt sie den Arm aus, um dem Störenfried einen Dämpfer zu verpassen, schmiegt sich zurück an Henriks warmen Körper und denkt in ihrem vernebelten Zustand ernsthaft darüber nach, mit welcher Krankheit sie sich in der Agentur abmelden kann, um sich gleich darauf in der Gegenwart wiederzufinden und zu realisieren, dass Montag ist. Montagmorgen um acht Uhr war Teambesprechung und da sollte sie besser nicht fehlen, wenn sie ihren Job behalten wollte. Und den wollte sie behalten.
Henrik rekelte sich und schnurrte wie ein Kater, dann wanderte seine warme Hand wie von selbst zu ihr rüber und kroch unter ihr Shirt. 
»Ich muss aufstehen«, flüsterte sie.
»Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt gehen lasse«, raunte er ihr ins Ohr und fing an, ihren Hals zu küssen. 
Mumps? dachte sie, während seine feuchten Lippen ihre empfindliche Haut kitzelten. Migräne? Oder besser Magen-Darm? Ja, Magen-Darm war perfekt, damit wurde man geächtet, damit wollte sich niemand anstecken. Sie hielt schon Ausschau nach ihrem Handy auf dem Nachttisch, als ein Gedanke blitzartig durch ihren Kopf schoss und sie mit einem Ruck nach oben katapultierte. »Oh nein! Der Berninger!«
Henrik ließ von ihr ab und blickte sie verdutzt an. »Hab ich was falsch gemacht?«
»Was? Nein. Ich muss aufstehen, ich muss los! Heute ist die wichtigste Besprechung des ganzen Jahres, es geht … es geht um mein Projekt, das heißt … ist ja auch egal, ich darf nicht zu spät kommen.«
Er zog ein Gesicht. »Es gibt was Wichtigeres als mich?«
Sie lächelte und küsste ihn kurz auf den Mund. »Meine gesamte Zukunft hängt von diesem Projekt ab, Sweetheart.« Das war natürlich übertrieben, aber Henrik konnte manchmal beleidigt sein wie ein kleiner Junge, dem man sein Feuerwehrauto weggenommen hatte, vor allem, wenn sie seine Liebesbekundungen nicht gebührend würdigte. »Machst du uns ein schnelles Frühstück? Ich geh rasch unter die Dusche.« Sie sprang aus dem Bett und huschte ins Bad.
Als sie angekleidet und geschminkt in die Küche kam, war Henrik auch schon fix und fertig und hatte den Tisch gedeckt. Zwei Kaffeebecher verströmten einen herrlichen Duft und auf den beiden Frühstückstellern lagen frisch getoastete Käsebrötchen. 
»Du bist ein Schatz. Es duftet herrlich!« Normalerweise frühstückte sie nie zu Hause, aber wenn Henrik bei ihr war, dann sah sie durchaus die Vorteile einer festen Beziehung. Aber nur für einen kurzen Moment. Aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen anderer Paare wusste sie, dass solche Aufmerksamkeiten ganz schnell ein Ende fanden, wenn man erst zusammenlebte. So wie es bei ihnen lief, war es perfekt. Sie verbrachten die Wochenenden miteinander, wenn sie am Montagmorgen in die Agentur aufbrach, fuhr er zurück nach Kiel, sie konnte sich von ihm erholen und voll auf ihren Job konzentrieren. Perfekter konnte es nicht sein. Sie trank einen Schluck Kaffee und biss zufrieden mit sich und der Welt in ihr Käsebrötchen. 
»Das kannst du jeden Morgen haben«, sagte Henrik mit zärtlich anzüglichem Blick. 
Sie schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Ja, das wäre zu schön«, antwortete sie leichtfertig. Den Hintern schon in der Luft, trank sie noch einen letzten Schluck Kaffee und tappte barfuß hinüber in den Flur, um in die Pumps zu schlüpfen. In Jeansjacke und mit der Tasche um die Schulter hielt sie die Klinke der Wohnungstür in der Hand und wartete, bis Henrik seinen Rucksack geholt hatte und sie zusammen das Haus verlassen konnten. Als sie an ihrem kleinen Toyota Sportflitzer standen, umarmte und küsste er sie ein letztes Mal. »Vermisse dich jetzt schon«, raunte er.
Trotz des Zeitdrucks löste sie seine Hände so sanft wie möglich von ihrer Taille. »Ist schon spät. Also, bis Freitagabend!« Dann stieg sie ein, fuhr los und winkte ihm zu, als er lässig zu seinem Kombi dackelte.
Wie jeden Morgen stand sie an der Querstraße und musste sich entscheiden. Die Agentur lag auf der anderen Seite der Flensburger Förde. Über die Westtangente war es ein ganzes Stück weiter, dafür aber konnte sie Gas geben, sofern sie nicht eine rote Welle erwischte. Die Alternative war der kürzere Weg durch die Nordstadt, der direkt am Hafen vorbeiführte, aber leider in der Regel mit Autos vollgestopft war.
Montagmorgens war sie zu keiner bewussten Entscheidung fähig, da war sie noch mit allen Sinnen beim Wochenende mit Henrik. Irgendwann hatte sie sich einen kleinen Trick einfallen lassen, der ihr diese folgenschwere Entscheidung abnahm. Wenn sie das Radio anstellte und es lief Musik, dann fuhr sie rechts herum, wurde aber geredet, ging es links herum. Hinter ihr wurde schon gehupt. Sie stellte das Radio an und es lief ein Song. Also Westtangente. Sie blinkte, bog nach links ab und hoffte auf die grüne Welle. Allerdings verriet ihr der Blick auf die Uhr, dass sie es nicht mal rechtzeitig in die Agentur schaffen würde, wenn sie fliegen könnte.
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Oh Mann! Die Wochenenden mit Henrik verlangten ihr einiges an Energie ab. Jetzt hieß es umschalten von Körper auf Geist. Für die Besprechung brauchte sie ihre volle Konzentration.   

Kapitel 2

Die Woche im Büro begann mit der Teambesprechung um acht Uhr. Das war Gesetz in der Werbeagentur C & M Carlsson, und daran gab es nichts zu rütteln. Die gesamte letzte Woche kam dann auf den Tisch, Stand der laufenden Projekte, Verteilung von neuen Aufträgen, Terminplanungen, allgemeine organisatorische Dinge, Zusammenarbeit und Unstimmigkeiten innerhalb des Teams – was in der Regel die meiste Zeit in Anspruch nahm – alles in allem nichts, was nicht auch um eine oder zwei Stunden nach hinten verschoben werden konnte. Das sah Camilla anders. Am Montagmorgen legte sie sogar besonderen Wert auf Pünktlichkeit und ließ keine Ausreden gelten, vor allem solche nicht, die sich auf Autoschlangen, rote Ampeln oder streikende Motoren bezogen.
Das war ziemlich kleinlich, fand Miriam, aber Camilla musste manchmal die Chefin raushängen lassen, da sie sich ihrer Ansicht nach sonst schon ausgesprochen liberal gab. Am Montagmorgen ging es nicht um kreative Freiheit, da ging es um unaufschiebbare Abgabefristen. Aber Miriam wohnte nun mal auf der anderen Seite der Förde, und was das bedeutete, wusste jeder, der die Strecke Montagmorgens um acht fahren musste. Theoretisch konnte sie sich ein Viertelstündchen früher auf die Socken machen, wie sie es bis vor einiger Zeit getan hatte, aber seit neuestem gab es da diesen entzückenden Grund, der ihr den Schlaf raubte.     
Ihr Handy klingelte, als sie die Westtangente in der Autoschlange vorwärtskroch. Sie drückte auf Annahme.
»Wo bleibst du denn?«
Es war Lydia. Sie war Dreh- und Angelpunkt in der Agentur, Organisationstalent, Mädchen für alles, Camillas Liebling und ihre rechte Hand. 
»Wieso? Hab ich was verpasst?« Miriam stellte sich dumm.
»Hallo?«, keifte Lydia prompt los. »Es ist Montag! Und es ist zehn nach acht!«
»Oh, tatsächlich? Ich brauche nur noch ein paar Minütchen. Bin schon … ganz in der Nähe.« Das war gelogen, sie war gerade erst losgefahren.  
»Camilla reißt dir den Kopf ab, sie ist echt stinkig, und wir kriegen ihre schlechte Laune ab!«
»Es gab einen Unfall, ich komme nicht vorwärts«, schwindelte Miriam. Stress am Morgen war Gift für ihre Kreativität, zumal nach einer so berauschenden Nacht! »Fangt doch schon mal ohne mich an.«
Lydia gab einen knurrenden Laut von sich. »Warum steigst du nicht endlich auf die Öffentlichen um?«
»Weil ich drei Mal umsteigen müsste und dann noch später käme«, antwortete Miriam, doch Lydia hatte schon aufgelegt. Die Ärmste war stets bemüht, alles zu Camillas Zufriedenheit zu gestalten, und sie hasste Unvorhergesehenes. Dabei konnte man Miriams Unpünktlichkeit mittlerweile als feststehende Gegebenheit einplanen, quasi seit sie Henrik kannte.
Henrik! Bei dem Gedanken an ihn stieß sie einen glückseligen Seufzer aus. Sie hatten sich letzten Oktober beim Windsurf Worldcup auf Sylt kennengelernt, ein Event, das Miriam sich nie entgehen ließ, wenn auch nur als Zuschauerin. Sie waren beide sofort Feuer und Flamme gewesen. Henrik hatte in Kiel ein Zimmer in einer Männer-WG und es hatte sich schnell eingespielt, dass er die Wochenenden bei ihr verbrachte, denn Miriams Zweizimmerwohnung bot die besseren Voraussetzungen für zwei frisch Verliebte. Sogar ein halbes Jahr später freute sie sich immer noch auf ihre gemeinsamen Wochenenden. So hatte sie es noch bei keinem seiner Vorgänger erlebt. Die Entfernung und die wohldosierte gemeinsame Zeit hielten das Knistern zwischen ihnen aufrecht, davon war sie überzeugt. Wenn man sich nur an den Wochenenden sah, blieb die Liebe länger frisch. Und diesen Zustand würde sie um keinen Preis verändern wollen. Von Freitagabend bis Montagmorgen gab es auf der ganzen Welt nur ihn und sie. Doch sobald sich ihre Wege getrennt hatten, konzentrierte sie sich voll und ganz auf ihren Job. Camilla wusste das. Umso unverständlicher, dass sie jedes Mal eine Szene wegen ein paar Minuten machte. 

Kurz nach halb neun parkte Miriam ihren Flitzer auf dem Hof der Agentur, die im Erdgeschoss eines Bürogebäudes untergebracht war, in dem noch drei weitere Firmen ansässig waren. Neben dem Eingang hing das Schild der Werbeagentur C & M Carlsson. Das C stand eindeutig für Camilla Carlsson, Inhaberin der Agentur. Aber wer hinter dem M steckte, darüber spekulierte das fünfköpfige Team schon lange erfolglos. Es standen mehrere, teils haarsträubende Optionen im Raum. Camillas Ehemann Björn konnte man ausschließen, die beiden Söhne Carl und Gustav, acht und zwölf Jahre alt, ebenso. Aber wer war die ominöse Person, die hinter dem M steckte? Jedes Mal, wenn Miriam an dem Schild vorging, stellte sie sich wieder diese Frage. Seit einem Jahr arbeitete sie nun in der Agentur und sie fand, dass sie sich prima eingearbeitet hatte, sie würde sogar behaupten, dass sie sich unentbehrlich gemacht hatte, und irgendwann würde sie auch dem Geheimnis auf die Spur kommen.  
Rasch flitzte sie ins Gebäude, holte ihre Mappe und einen Stift aus dem Büro und eilte hinüber ins Besprechungszimmer, wo sich das Team bereits vollzählig eingefunden hatte. 
»Moin, Leute«, grüßte sie Bedauern vortäuschend. »Äh, sorry, bin ein bisschen zu spät. Auf der Westtangente hat es einen Unfall gegeben« Sie setzte sich an ihren Platz, schlug ihre Mappe auf und registrierte nebenbei, dass Camilla nervös mit ihren Fingern auf die Tischplatte tippte, ein eindeutiges Zeichen von Überreiztheit. Oje!
»Warum steigst du nicht endlich auf die Öffentlichen um?«, fuhr ihre Chefin sie an. »Dann müssten wir nicht hier sitzen und auf dich warten.«
»Naja, mit dem Wagen bin ich viel flexibler«, sagte Miriam zu ihrer Verteidigung.
»Das mag bei flexiblen Arbeitszeiten ein Vorteil sein, aber wie du weißt, haben wir die nicht. Wir fangen montags um acht Uhr an. Pünktlich. Was ist denn neuerdings dein Problem? Müssen wir uns Sorgen machen?«
Miriam würde ihrer Chefin oder dem Team ganz sicher nicht auf die Nase binden, welche sinnlichen Vergnügungen ihr Zuspätkommen verursachten, auch wenn die sich längst zusammengereimt hatten, dass nur ein neuer Lover dahinterstecken konnte. »Nein, nein, es ist alles in Ordnung.«
»Dann verhalte dich bitte kollegial und lass uns nicht ständig warten. Das Ticket für die Öffentlichen übernimmt die Agentur, das habe ich dir schon mehrfach angeboten.«
»Ja, okay«, willigte Miriam schließlich ein und ein Aufatmen ging durch den Raum.
»Lydia, kümmere dich bitte darum«, wies Camilla die Sekretärin an und die machte sich eifrig eine Notiz.
»Das Problem hätten wir gelöst. Dann können wir ja endlich zu den wichtigen Dingen übergehen.« Während Camilla sich ihrer Agenda widmete, schüttelte sie verständnislos den Kopf. »Ich weiß sowieso nicht, warum jeder Hanswurst ein Auto fahren muss. Heutzutage! Wo wir hier so gut vernetzt sind«, murmelte die Frau, die ihre beiden heranwachsenden Kids jeden Morgen in ihrem dicken SUV zur Schule kutschierte.
So schlecht war die Idee mit dem Monatsticket gar nicht, dachte Miriam derweil, zumal es gratis war. Es ließ sich durchaus vielfältig nutzen. Montags, wenn es auf Pünktlichkeit ankam, könnte sie den Bus nehmen, und an den anderen Tagen weiterhin ihren kleinen Flitzer fahren. Das Vergnügen ließ sie sich nicht nehmen. Sie liebte den Wagen, auch wenn sie ihn im Winter mit ein paar Sack Katzenstreu im Kofferraum beschweren musste, damit sie bei Schnee und Eis die Ausfahrt vom Parkplatz raufkam beziehungsweise nicht hinunterrutschte. Nein, sie hatte keine Katze und der Winter war zum Glück vorbei. Wenn die Busse nicht pünktlich waren – und das waren sie meistens nicht – lag ihre Verspätung zumindest nicht an ihr und niemand konnte ihr Vorwürfe machen. Damit hatte Camilla sich wohl ein hübsches Eigentor geschossen. Miriam lächelte triumphierend vor sich hin.
»Miriam? Bist du noch bei uns?«
Camilla riss sie jäh aus ihren amüsanten Gedanken. »Was? Ähm, ja klar.«
Miriam entging nicht das schadenfrohe Grinsen ihrer Kollegin Nadine, die ihr direkt gegenübersaß. Warum saß sie ihr eigentlich überall gegenüber, nicht nur hier im Konferenzzimmer, sondern auch drüben im Büro? Dort standen sich ihre Arbeitsplätze vis-à-vis gegenüber und waren nur durch eine Reihe von Grünlilien auf einem halbhohen Bücherbord getrennt, die Nadine seit Jahr und Tag hegte und pflegte, weil sie angeblich die Luft vom Elektrosmog befreiten. Sie war ja so empfindlich.  
»Kommen wir zuerst zu dem Projekt Berninger«, sagte Camilla.
Die Firma Berninger, Süßwaren und Schokoladenhersteller, war mit einer neuen Produktreihe an sie herangetreten: Verpackung und Präsentation der veganen Schokoriegel mit weniger Zucker, frei von Milch, Ei, Gluten und Nüssen, also richtig gesund, aber auch hochwertig, in sechs verschiedenen Geschmacksrichtungen, caramel, crunchy, fruchtig, bitter, sahnig und gepfeffert.
Miriam spitzte die Ohren. Ja! Das war ihr Projekt! Zwei Wochen lang hatte sie Tag und Nacht – Wochenenden ausgenommen – an dem Entwurf gefeilt, bis er perfekt war.
Ursprünglich hatte Camilla die wahnwitzige Idee gehabt, dass sich die beiden Grafikdesignerinnen – sie warf sie tatsächlich beide in einen Topf, obwohl Nadine nur Mediengestalterin war – gemeinsam den perfekten Entwurf kreierten, weil sie sich angeblich wunderbar ergänzten, Miriam mit ihrem ausgeprägten Sinn für Klarheit und Nadine mit ihrem ausgeprägten Hang zum Verschnörkelten. Ihre Charaktere waren tatsächlich so gegensätzlich wie Feuer und Wasser, und es war keine Frage, wer das Feuer war und wer das Wasser. Aber Chefin Camilla legte großen Wert auf Teamgeist, nur in diesem Fall waren sich die Grafikdesignerin und die Mediengestalterin ausnahmsweise mal einig: Die Idee gehörte abgeschmettert. Im Gegensatz zu Camilla betrachteten sie sich gegenseitig als Konkurrentinnen! Da beide scharf auf den Auftrag waren – wer befasste sich nicht gern mit Schokolade? – hatte jede von ihnen teils sogar in ihrer Freizeit einen Entwurf gestaltet, letzte Woche war die Präsentation gewesen. Wortlos hatte Herr Berninger die Entwürfe begutachtet, und auch wenn er sich zu keinem Urteil herabgelassen hatte, so war Miriam nicht entgangen, wie sehr seine Augen bei ihrem Entwurf aufgeleuchtet hatten. Sie konnte Eigenlob im Grunde nicht ausstehen, aber in diesem Fall musste sie sagen, dass ihr etwas wirklich Herausragendes gelungen war – edel, schlicht, teuer. Herr Berninger hatte sich eine Bedenkzeit von einer Woche erbeten, eine Woche voller Angespanntheit, jetzt hatte er sich offenbar entschieden. Und Miriam war klar, für wen.
Sie straffte die Schultern, um ihre volle Aufmerksamkeit zu demonstrieren. 
»Herr Berninger hat sich entschieden«, sagte Camilla, wobei ihr Blick auf Miriam fiel. »»Miriam, dein Entwurf hat ihn auf Anhieb angesprochen, wenn du von den Vorgaben auch weit abgewichen bist.«
»Kreativität gehört nun mal dazu, das bringt mein Beruf mit sich.« Und genau das unterschied eine studierte Grafikdesignerin von einer Mediengestalterin! Sie grinste mit derselben Schadenfreude, mit der Nadine vorhin gegrinst hatte.
»Er ist schlicht und exklusiv«, fuhr Camilla fort, »und verspricht ein hochwertiges Produkt. Mein Kompliment.«
Miriam konnte ihre unbändige Freude kaum verbergen. »Danke, das freut mich unglaublich.« Sie hatte nicht eine Sekunde daran gezweifelt, dass ihre Arbeit großen Anklang finden würde. Mit diesem Auftrag würde sie einmal mehr ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen. Mit Herrn Berninger kam sie prima aus, ja, sie mochte ihn und sie hatte das Gefühl, dass sie dieselben Vorstellungen hatten. 
»Wenn er Schrauben herstellen würde, meinte er, hätte er keine Sekunde gezögert«, fuhr Camilla sachlich fort.  
Miriam fiel die Kinnlade runter. In ihrem Kopf schwirrten lauter Fragezeichen herum. Schrauben? Wieso Schrauben? Sowas hätte Berninger niemals gesagt. Camilla wollte sie auf den Arm nehmen. »Ähm, ich verstehe nicht. Es geht doch um Schokolade.«
»Genau, es geht um Schokolade. Schokolade muss sanft sein, Schokolade soll die Herzen erwärmen. Das waren seine Worte. Und deshalb«, Camilla wandte sich Nadine zu, »hat er sich für deinen Entwurf entschieden. Er ist noch nicht das, was er sich vorstellt, aber er sei entwicklungsfähig, meint er, und er möchte sich gern noch diese Woche mit dir zusammensetzen.«
Nadine hob ihr Kinn in die Höhe und grinste überlegen, ohne einen Kommentar abzugeben. Miriam hatte plötzlich den Verdacht, dass sie diese Entscheidung längst kannte. Schockiert blickte sie in die Runde, zu Richie, dem Webdesigner in der Agentur, der nur mitleidig mit den Schultern zuckte, zu Philip, dem Azubi, der ohnehin nichts zu melden hatte, und schließlich zu Lydia, der Sekretärin, die schon aus Prinzip stets neutral blieb.
»Aber … aber, das kann er doch nicht machen, ich meine, ich habe viel Zeit in den Entwurf gesteckt, er ist perfekt, ich habe jetzt die Kapazitäten, um weiter daran zu arbeiten, und Nadines Entwürfe sind doch …« Unter aller Sau, wollte sie noch anfügen, doch Camilla schnitt ihr das Wort ab.
»Es tut mir leid, aber du weißt ja, wie das ist. Der Kunde ist König, und Herr Berninger verspricht sich langfristig mit Nadine eine angenehmere Zusammenarbeit.«
Miriam fühlte sich betrogen und sie spürte, wie sich ihr Hals verengte. 
»Du übernimmst die Broschüre für das Bauprojekt im Schäferweg«, fuhr Camilla ungerührt fort.
»Aber das ist mein Projekt!«, beschwerte sich Nadine.
»Darf ich dich daran erinnern, Nadine, dass wir ein Team sind? Beides wirst du in der Kürze der Zeit nicht schaffen, also übernimmt Miriam den Schäferweg. Schick ihr bitte die entsprechenden Dateien auf ihren Rechner.«
Miriam schnaubte. Jetzt sollte sie auch noch ein angefangenes Projekt von Nadine übernehmen. Das schlug dem Fass den Boden aus. Sie musste hier raus. Sofort! Abrupt stand sie auf.
Camilla seufzte. »Gut, dann lasst uns eine kurze Pause einlegen. In fünfzehn Minuten bitte wieder hier.« 

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